(von Salih Alexander Wolter, erschienen in Rosige Zeiten, Nov./Dez. 2010; Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors)
„O nein“, antwortete Jean Genet 1975 in einem seiner seltenen Interviews Hubert Fichte auf die Frage, ob er ein revolutionäres Konzept der Sexualität habe. Dabei scheint das ebenso ein Gemeinplatz zu sein wie der andere, um den man auch zum hundertsten Geburtstag Genets kaum herumkommen wird: dass die „Biographie des Autors … hier untrennbarer Teil des Werkes“ sei, wie es in Fritz J. Raddatz´ Aufsatz über Querelle in der ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher heißt. `Ihr sagt, ich sei schwul – ich sage: Ich bin der Schwule´, lautete schließlich das Credo dieses `heiligen Monsters´ der französischen Literatur, das der Philosoph Jean-Paul Sartre 1952 in einer monumentalen Studie als Saint-Genet des Existentialismus kanonisierte. Da war die Handvoll Romane schon geschrieben – überwiegend im Gefängnis, zum Teil auf Toilettenpapier, wie kolportiert wurde –, denen der am 19. Dezember 1910 in Paris geborene ehemalige Fürsorgezögling, Stricher und Kleinkriminelle den Einsatz einiger der angesehensten Intellektuellen des Landes für seine Begnadigung verdankte, als ihm nach einem `Rückfall´ (er hatte ein Buch gestohlen!) lebenslange Haft drohte. Er arbeitete danach noch sehr erfolgreich als Dramatiker, bevor er sich in den 1960er-Jahren wieder aus dem Kulturbetrieb zurückzog. Genet schrieb kaum noch etwas, lebte ohne festen Wohnsitz in kleinen Pariser Hotels oder bei seiner Wahlverwandtschaft in Marokko und machte gelegentlich Schlagzeilen mit seinem radikalen politischen Engagement – etwa, als er illegal in die USA einreiste, um die Black Panther zu unterstützen, oder sich den palästinensischen Fedajin anschloss (darüber verfasste er dann kurz vor seinem Tod 1986 doch noch einen großen poetischen Bericht). Mit dem neuen Homo-Selbstbewusstsein, das sich nach Stonewall in den westlichen Metropolen artikulierte, konnte er dagegen nichts anfangen – vielleicht, weil er für sich, wie Raddatz meint, unsere Gesellschaft am überzeugendsten verwarf, indem er sie so annahm, wie sie ist. „Revolutionär – nein“, wiederholte er gegenüber Fichte und fügte unvermittelt hinzu: „Der Umgang mit Arabern hat mich im Allgemeinen meistens glücklich gemacht und mich befriedigt.“
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„Seine ganze Seele wandte sich nun der Begegnung mit Querelle zu – Querelle, der … stark war, so stark wie hundert Millionen Menschen.“ Alle träumen von ihm, auch Gil Turko, der sich im Bagno, der ehemaligen Strafkolonie von Brest, verborgen hält. Der junge Maurer hat einen älteren Kollegen getötet, der ihn dem Gespött der anderen Arbeiter preisgegeben hatte. Als sie der Polizei von Gil erzählten, verliehen sie jedem seiner „Wesenszüge, der an das, was sie von Schwulen wussten, erinnerte oder oberflächlich erinnern konnte, einen karikaturhaften Anstrich, der mit erschreckender Wahrheit das genaue Porträt eines Pupenjungen formte“. Er ist auch für Querelles letzten Mord unter Verdacht gekommen, und der schöne Matrose wird ihn lieben und verraten. Doch jetzt, den ganzen Tag lang allein hinter blinden Scheiben hockend, macht Gil, der dem „Gesang“ des nahen Hafens lauscht, „die schmerzensreiche Bekanntschaft mit der Poesie“. Die Bilder der Freiheit, die in ihm aufsteigen, Bilder des Meeres und von einem Schiff, erreichen sein „Bewusstsein auf komplizierten Umwegen: Da war zunächst das typische Geräusch einer Kette zu hören.“ Ob es denn möglich sei, „dass das Kreischen einer Kette die Maschinerie der Verzweiflung entfesselt, eine einfache Kette, deren Glieder im Innern verrostet sind?“, fragt der Erzähler sich und uns. Aber in Gil zerriss das „Bild der Kette … eine Faser, und der Riss vergrößerte sich, wurde zum Eingangstor für das Schiff, für das Meer, für die ganze Welt“.
Querelle, Genets erstmals 1947 erschienenes bedeutendstes Werk ist der `Handlung´ nach nicht mehr als der drittklassige Krimi, den Rainer Werner Fassbinder darin sah. Der Roman beginnt mit einer langen Periode, in der „wir uns einer wohlfeilen Poesie des Wortes überlassen“, wie der Erzähler bereitwillig zugibt, „jeder dieser Sätze war nur ein Argument für die Neigungen des Verfassers“: Evokationen, wo wir sonst darauf eingestimmt werden, einem linearen Geschehen zu folgen. Denn für Querelle passt „das Wort Geschichte wenig, wenn es ein Abenteuer oder eine Reihe schon gelebter Abenteuer bezeichnen soll“. Der Erzähler nennt das „Schauspiel, von dem wir berichten wollen“, vielmehr „die Transposition jenes Vorganges, den uns Querelle offenbarte. (Wir reden wieder von jener idealen, heroischen Persönlichkeit, der Frucht unserer geheimen Liebe.) Von diesem Vorgang können wir sagen, dass er der `Heimsuchung´ vergleichbar ist. … Und damit er Ihnen zugehöre und eine Romanfigur werde, muss Querelle außerhalb unseres Ichs gezeigt werden.“ Doch zugleich gilt es in den Rhythmus zu finden, der unsere Erwartung des Seemanns formt, sodass wir Querelle am Horizont ausmachen, nach ihm zu greifen meinen. Fassbinders 1982 nach diesem Buch gedrehter letzter Film hat den Matrosen für meine Generation mit Brad Davis besetzt, der den Regisseur als Hauptdarsteller des in der Türkei spielenden fragwürdigen Knaststreifens Midnight Express angerührt hatte. Davis´ Gesicht vermag auch wirklich – wie bei Genet das Querelles für Leutnant Seblon, seinen Schiffsoffizier, der sich ebenfalls nach ihm verzehrt – „die Trauer eines schönen, sehr starken und sehr männlichen Burschen“ auszudrücken, „der wegen eines schweren Vergehens wie ein Kind eingefangen wird“. Aber die befreiende Erfahrung von Kunst, die bei Genet weitestmöglich dem musikalischen Erleben angenähert ist (seinem Biographen Edmund White zufolge konzipierte er Querelle auch als Ballett) – sie stellt sich im Film nicht ein.
Es bedarf dessen, was Hubert Fichte die `Empfindlichkeit´ nannte, um etwa aus einer alltäglichen Skizze wie dieser den Gestus genau aufzunehmen, der die unverkennbare Gestalt des Helden heraufbeschwört: „Seine Bewegung glich jenem Gefühl, das wir erleben, wenn wir in der Nacht, hinter der Wand eines Hotelzimmers, die erregte Stimme eines Jungen schreien hören: `Lass mich in Ruhe, du Dreckschwein, ich bin erst siebzehn Jahre alt!´“ Und wir erfahren, unter allen Personen des Buchs sei allein der Offizier, der auch der einzige echte Schwule sei, der „lyrischen Bilder“ fähig, „mit deren Hilfe wir sie in Ihnen verwirklichen und erstehen lassen wollen“. Doch wie einmal ausdrücklich versichert wird, existiert Seblon „nicht in unserem Buch“. Erhellend ist dazu Edmund Whites Bemerkung, dass der Erzähler des Querelle, indem er wie im 19. Jahrhundert in der ersten Person Plural spricht, nicht nur auf den Apparat des traditionellen Romans deute, der im Text zugleich durchgehend demontiert werde, sondern „auch auf eine neue Beziehung zum Leser – eher auf das `Wir´ der Komplizenschaft als das Erzähl-`Ich´ und das Leser-`Ihr´ der früheren Romane in ihrer gegnerischen Beziehung“. Zweifellos treffen sich hier Kunst und Pornographie – zumindest wenn man mit Gore Vidal meint, dass der Porno „stärker als jede andere Form des Literarischen … nach `Mitarbeit´ des Lesers strebt“, wie es Hans Mayer in seiner Studie Außenseiter paraphrasiert; ja, diese Kollaboration sei hier „einziger Daseinszweck“. Wenn es Genet nicht interessierte, was die Schwulen von seinen Büchern hielten, erkennt sein Freund, der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo, darin zwar den Anspruch, diese nicht auf ihren vermuteten Gebrauchswert reduzieren zu lassen. Doch in Querelle wendet sich das auktoriale Wir gleich im ersten Absatz „an die Invertierten“ und drückt später auch den Wunsch aus, dass der Leser „durch seine eigenen Möglichkeiten und unsere Erzählung … diese bisher in ihm versunkenen Helden entdeckt“. Und das zum Abschluss einer Reflektion auf folgenden Tagebucheintrag des Leutnants: „Ich streife die Ärmel meiner Pyjamajacke zurück, damit sie mir beim Wichsen nicht lästig sind. Diese einfache Bewegung macht aus mir einen Ringkämpfer, einen Kerl. So stelle ich mich dem Bilde Querelles, ich erscheine (vor) ihm als Dompteur. Aber es endet traurig: durch ein Abwischen des Bauches mit dem Handtuch.“
Für Seblon wird durch „sein ständiges Meditieren über Querelle – dessen schönste Zierden, seine Muskeln, seine Formen, seine Zähne, seine nur erahnten Geschlechtsteile“ – der Seemann zu einem engelgleichen Wesen, „um das die Verschlingungen einer Musik kreisen, die Gegensatz zur Harmonie ist. Besser noch: Musik, die dann noch bleibt, wenn die Harmonie verbraucht und zermahlen ist.“ Sie klingt im Kreischen der Kette an, die Gil Turko in seinem Versteck hört. Edmund White zeichnet detailliert nach, wie Genet, Michel Foucault vorangehend, das `Archiv´ unserer Gesellschaft erkundet hat: Im Staatsgefängnis von Brest, wo bis 1858 Männer aus dem Proletariat für kleinste Vergehen mitunter jahrzehntelang in Eisen gelegt wurden, blieb der maritime Jargon aus der frühen Neuzeit erhalten, als die aufstrebende Großmacht Frankreich Streuner und Vagabunden auf die Schiffe zwang. „Die Ketten der Galeerensklaven hießen: Die Ranken. Welche Trauben trugen sie!“, notiert der Offizier in seinem Tagebuch. Und er genießt es, wenn die Arbeiter von Brest abends in ihre Wohnbaracken gehen, „inmitten dieser Fülle von Erschöpfung, schweren Muskeln und männlicher Ermattung zu verweilen“. Sie tragen die äußerlichen Fesseln nicht mehr, deren Funktion hat ein Rhythmus übernommen, der auch unsere Phantasie – nach dem ältesten griechischen Beleg für dieses Wort – `in Banden hält´: „Den ganzen Tag haben sie wirklich gearbeitet …, ihre Bewegungen verschmolzen und verwickelt und die eine durch die andere ergänzt, sodass ein Werk daraus entstand, das ein sichtbarer, festgeschürzter Knoten ist. Jetzt kehren sie heim, eine dunkle Freundschaft – dunkel für sie selbst – verbindet sie, und ein sanfter Hass.“
Am Ende begibt sich der Leutnant in Begleitung eines Schauermanns zu den Festungswällen von Brest, wo die Matrosen, wenn sie nach einem Landgang die letzte Barkasse verpasst haben, zu übernachten pflegen, nachdem sie ihr Geschäft erledigt haben. Als sich Seblon „mit bequem heruntergelassener Hose zur Hingabe auf die Grabenböschung legte“, gerät er „mit dem Bauch in einen Scheißhaufen. Wortlos ergriff der Schauermann die Flucht. Der Leutnant blieb allein zurück. … Von diesem besonderen Punkt in Brest … stieg eine leichte Brise auf und rieselte süßer und balsamischer als Blüten aus Saadis Rosengarten über die Welt: die Feuchtigkeit des Leutnant Seblon.“ Es sollte bürgerlicher Literaturgeschichtsschreibung überlassen bleiben, dies als seinen `Untergang´ zu deuten.
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Der einzige Zugangsweg zu dem aufgegebenen Friedhof von Larache, auf dem Jean Genet als „marokkanischer Arbeiter ehrenhalber“ ruht, führt „über die Müllkippe der Stadt“, schreibt Juan Goytisolo. „Sein Grab geht auf das Meer.“ Auch wenn dies die afrikanische Atlantikküste ist – mit seinem Querelle gelingt es ihm noch immer, „seine Waffe zu schleudern, wenn der Fuß noch auf einem fernen Gestade ruht, während sein Schritt sich schon über die Wasser hinweg Europa zuwendet“.
salih alexander wolter
Jean Genet
„Querelle“
ISBN u.a. 978-3499116841
Preis: gebraucht ab 3 EUR
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