Tag Archiv für Begehren

„Die Sache mit dem Geschlecht – Der Biologe Heinz-Jürgen Voss über das Begehren der Geschlechter“

An dieser Stelle sei kurz auf ein Interview im „fluter – Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung“ verwiesen, in dem die Gesellschaftlichkeit von Geschlecht und Begehren verdeutlicht wird. Hier gehts zum Interview.

Darüber hinaus zwei thematische Buchhinweise:

1 – Heinz-Jürgen Voß: „Geschlecht“

2 – Heinz-Jürgen Voß: „Making Sex Revisited“

 

Schwule Klassenkenntnis: Perihan Mağdens «Ali und Ramazan»

(Salih Alexander Wolters Rezension zu Perihan Mağdens Roman Ali und Ramazan erscheint gedruckt in Rosige Zeiten, Ausgabe Mai/Juni 2012. Im Folgenden eine leicht überarbeitete Fassung von: http://salihalexanderwolter.blogsport.de.)

 

Der packendste «schwule» Roman seit langem ist von einer Frau und kommt aus der Türkei: Ali und Ramazan von Perihan Mağden, einer prominenten gesellschaftskritischen Autorin und Kolumnistin, war dort 2010 «Buch des Jahres» und stand monatelang auf der Bestsellerliste, der Film dazu kommt demnächst in die Kinos. Hierzulande hat diese Geschichte bei einigen Rezensenten – das Wort muss, soweit ich die erschienenen Artikel überblicke, in diesem Fall nicht gegendert werden – Anstoß erregt. Aus stilistischen Gründen, wie sie sagen. «Kitsch» lautet da ein Vorwurf, der sich ästhetisch gibt, auch wenn er hier nur schlecht kaschieren kann, dass es die politische Aussage ist, die nicht gefällt. Als Beleg schreiben sie einer vom anderen diese unschuldige Stelle ab: «Ali und Ramazan vereinigen sich erstmals in jener Nacht, auf dem Bettsofa des Herrn Direktor, und das wieder und wieder, bis zum nächsten Morgen. Sie werden eins. Werden zu Ali und Ramazan. Bis in alle Ewigkeit. Bis zum Ende ihrer viel zu kurzen Ewigkeit.» Weiterlesen

So sehr, wie es nur geht …Perihan Mağdens «Ali und Ramazan»

(rezensiert von Heinz-Jürgen Voß, zuerst bei www.kritisch-lesen.de)

„Ali und Ramazan“ ist eine Liebesgeschichte, die fernab jeder Schnulze daher kommt. In klarer aber reicher Sprache erzählt die Autorin Perihan Mağden darin die Geschichte der zwei Jungs Ali und Ramazan, die in einem Waisenhaus aufwachsen und sich dort ineinander verlieben und so die Zumutungen, mit denen sie konfrontiert werden, überstehen – bis es nicht mehr weitergeht. Neben einer einfühlsamen, vor Freude und Traurigkeit zu Tränen rührenden Liebesgeschichte, die sich an einer wahren Begebenheit orientiert, fundiert der Roman literarisch die aktuellen wissenschaftlichen Debatten, die sich mit der ökonomischen Ausgrenzung von Menschen und der Zementierung menschlichen Miteinanders zu starren Identitäten befassen. Im Jahr 2010 wurde „Ali und Ramazan“ zum Buch des Jahres in der Türkei gewählt. Nun liegt es in einer deutschen Übersetzung vor, erschienen im Suhrkamp-Verlag. Weiterlesen

Karl Heinrich Ulrichs „Der erste Schwule der Weltgeschichte“

(von Heinz-Jürgen Voß, in gekürzter Fassung erstveröffentlicht in „Die Lupe“ (Juni/Juli 2011), Zeitschrift von Die.Linke, Bezirksverband Berlin Tempelhof-Schöneberg. Die vollständige Ausgabe findet sich hier.)

 

Was uns heute als so offensichtlich erscheint, dass man entweder zu einem gewissen Zeitpunkt sein „Coming out“ als homosexuell oder bisexuell hat oder sich ansonsten quasi selbstverständlich als heterosexuell verortet, ist in der Geschichte noch nicht alt. Erst im 19. Jahrhundert (erste Indizien dafür gab es schon etwas früher) kamen solche Identitätsformen auf, mit denen Menschen bereits von Geburt an, oder auf Grund früher Erfahrungen, „schwul“, „lesbisch“ oder „einfach heterosexuell“ seien, weitere Merkmale sollten sich anschließen – so ein gewisser Lebensstil, bestimmte Charaktermerkmale und Verhaltensweisen. Kennzeichnend war für solche Betrachtungen, dass „Homosexuelle“ als „anders“ und „unnormal“, ja sogar als „krank“, neben vermeintlich „normal“-Begehrende gestellt wurden. (Vgl. Klauda 2008.) Erst 1992 wurde Homosexualität aus dem Katalog der Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestrichen.
Zuvor war es gewiss auch nicht rosig – wegen gleichgeschlechtlichem Sex (und auch für andere „Delikte“ wie Sex mit Tieren) konnte man mit Verweis auf Sodomie-Paragrafen verurteilt werden, mit harten Strafen, bis hin zum Tod. Allerdings knüpfte sich eben keine starre Identität an den getätigten sexuellen Akt – „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (Foucault nach: Klauda 2008: S.10f) Weiterlesen

Jäcki und die Heere der Unempfindlichkeit. Zum 25. Todestag von Hubert Fichte

(von Salih Alexander Wolter; erschienen in Rosige Zeiten, Nr. 132 [März/April 2011])

Hubert Fichte - Portrait„Geilheit des Aufbruchs damals/ Traurigkeit heute“, notiert Hubert Fichte im März 1985 in Paris. Der Hamburger Schriftsteller, Ethnograph und Journalist hat dort mit seiner Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, seinen 50. Geburtstag gefeiert und will jetzt allein weiter nach Marokko. 15 Jahre zuvor, in seinem Radiofeature über das Treiben auf der Djemma el Fna, dem legendären „Platz der Gehenkten“, ließ er noch weg, was ihn nach Marrakech gezogen hatte – in der Bundesrepublik war der Schandparagraph eben erst gelockert worden. „Die Drohung mit dem KZ bis zum zehnten Lebensjahr, weil ich Halbjude war./ Die Drohung mit dem Zuchthaus, weil ich schwul war“: So hat er einmal zusammengefasst, wie er – der „Detlev“ seines ersten Romans Das Waisenhaus (1965) – die Kontinuität des Rechtsstaats erlebte. Zwar begann, seit er 1968 einem breiteren Publikum mit dem „Pop-Roman“ Die Palette bekannt wurde, nach Detlev der „Jäcki“ Gestalt anzunehmen, der – an seiner Seite „Irma“ mit ihrer Kamera – in Fichtes auf 19 Bände geplanter Geschichte der Empfindlichkeit nach St. Pauli noch andere Tropen erforschen will. Er hatte in den frühen 1960er Jahren in einer Pariser Sauna die Erfahrung gemacht, der er sein ganz eigenes Verständnis von „bi“ verdankte und auf die in seinem neuen Buch eine der „Ricardtanten“ anspielen wird („Ich sah Marcel Proust im Dampf“): Oral befriedigt von einem „alten Franzosen“ und gleichzeitig – zum ersten Mal – anal genommen von einem „jungen Araber“, genoss er „die Bewegung des Hin und Her, das Oszillieren zwischen den Polen“.  So jedenfalls interpretiert Peter Braun in seiner Reise durch das Werk von Hubert Fichte den Dreier und leitet daraus „eine Denkfigur für einen Raum dazwischen“ ab, in dem der Autor später auch seine „Darstellung der afroamerikanischen Religionen angesiedelt“ habe. Doch seinen wohl berühmtesten Satz sagte Jäcki – „von der Erfahrung der Djemma el Fna … beflügelt“, wie Braun annimmt – erst 1971, in Detlevs Imitationen „Grünspan“:  „Ich kann mir die Freiheit, wenn ich ehrlich bin, nur als eine gigantische, weltweite Verschwulung vorstellen…“ Weiterlesen

Die Kette – und das Schiff, das Meer, die ganze Welt Zum 100. Geburtstag von Jean Genet

(von Salih Alexander Wolter, erschienen in Rosige Zeiten, Nov./Dez. 2010; Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors)

„O nein“, antwortete Jean Genet 1975 in einem seiner seltenen Interviews Hubert Fichte auf die Frage, ob er ein revolutionäres Konzept der Sexualität habe. Dabei scheint das ebenso ein Gemeinplatz zu sein wie der andere, um den man auch zum hundertsten Geburtstag Genets kaum herumkommen wird: dass die „Biographie des Autors … hier untrennbarer Teil des Werkes“ sei, wie es in Fritz J. Raddatz´ Aufsatz über Querelle in der ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher heißt. `Ihr sagt, ich sei schwul – ich sage: Ich bin der Schwule´, lautete schließlich das Credo dieses `heiligen Monsters´ der französischen Literatur, das der Philosoph Jean-Paul Sartre 1952 in einer monumentalen Studie als Saint-Genet des Existentialismus kanonisierte. Da war die Handvoll Romane schon geschrieben – überwiegend im Gefängnis, zum Teil auf Toilettenpapier, wie kolportiert wurde –,  denen der am 19. Dezember 1910 in Paris geborene ehemalige Fürsorgezögling, Stricher und Kleinkriminelle den Einsatz einiger der angesehensten Intellektuellen des Landes für seine Begnadigung verdankte, als ihm nach einem `Rückfall´ (er hatte ein Buch gestohlen!) lebenslange Haft drohte. Er arbeitete danach noch sehr erfolgreich als Dramatiker, bevor er sich in den 1960er-Jahren wieder aus dem Kulturbetrieb zurückzog. Genet schrieb kaum noch etwas,  lebte ohne festen Wohnsitz in kleinen Pariser Hotels oder bei seiner Wahlverwandtschaft in Marokko und machte gelegentlich Schlagzeilen mit seinem radikalen politischen Engagement – etwa, als er illegal in die USA einreiste, um die Black Panther zu unterstützen, oder sich den palästinensischen Fedajin anschloss (darüber verfasste er dann kurz vor seinem Tod 1986 doch noch einen großen poetischen Bericht). Mit dem neuen Homo-Selbstbewusstsein, das sich nach Stonewall in den westlichen Metropolen artikulierte, konnte er dagegen nichts anfangen – vielleicht, weil er für sich, wie Raddatz meint, unsere Gesellschaft am überzeugendsten verwarf, indem er sie so annahm, wie sie ist. „Revolutionär – nein“, wiederholte er gegenüber Fichte und fügte unvermittelt hinzu: „Der Umgang mit Arabern hat mich im Allgemeinen meistens glücklich gemacht und mich befriedigt.“ Weiterlesen

Stefanie Herbst, Juna Brock: „Guilty Pleasure – Heimliches Verlangen“

von Heinz-Jürgen Voß, erschienen in „Rosige Zeiten“ (Oldenburg), Heft 125.

„Guilty Pleasure“ – es gibt tatsächlich eine Band mit diesem Namen. Aber das tut weniger etwas zur Sache – vielmehr werden wir entführt in warme, einfühlsame und erotische Gedanken. Es geht um den Frontsänger Dice einer Band „Guilty Pleasure“ und dessen Bodyguard Ceely. In vollen Zügen werden die anreizenden körperlichen Merkmale beider beschrieben. Und aufreizend ist auch dieses Buch – eine wundervolle, anregende und kurzweilige Lektüre, die für einen unbekümmerten und erotischen Abend wie geschaffen ist.
In vollen Zügen wird die Affäre von Dice und Ceely beschrieben. Aufregend ist dabei manches: Die Beschreibungen, wann und wo und insbesondere wie beide miteinander Sex haben; und das vor dem Hintergrund, dass Dice in dieser bekannten und erfolgreichen Band singt und insbesondere von Teenies weiblicher Sozialisation angehimmelt wird. Entsprechend soll ihre Affäre nicht bekannt werden und schrammen sie verschiedentlich nur knapp daran vorbei, doch aufzufliegen. Gleichzeitig spielen sie mit dieser Situation: Geilen den jeweils anderen bei Konzerten und öffentlichen Auftritten auf, spielen mit der Lust und dem Verlangen des jeweils anderen.
Geht es zunächst nur um tollen, schnellen Sex – wird alles bald komplizierter. Es ist der Geruch, die Leidenschaft, das Kennenlernen, das in eine Badewanne mit reichlichem Rosenduft treibt… und bald beide die Sehnsucht nach dem jeweils anderen verzehrt, wenn sie nicht beieinander sein können, miteinander spielen können, den anderen aufreizen können.
Die Entwicklungen und das Ende der Geschichte sind überraschend. Juna Brock und Stefanie Herbst ist ein schönes Stück gelungen: „Guilty Pleasure – Heimliches Verlangen“. Erschienen im Oktober dieses Jahres im Dead Soft Verlag bietet es gute Unterhaltung.

ISBN 978-3934442511, 152 Seiten, 12,80 Euro.

Geschwisterliebe

(Autor_innen: Claudius Laumanns und Heinz-Jürgen Voß; gedruckt in „Rosige Zeiten“, Oldenburg, Nr. 117)

 

Patrick S. und Susanne K. lieben sich. Sie haben 4 Kinder zusammen und wünschen sich eine gemeinsame Zukunft. Das Problem: es sind Bruder und Schwester. Obwohl sie getrennt aufgewachsen und allen Anschein nach gut für einander sind, hat sie ihr Umfeld in der Provinz eilfertig denunziert. Patrick S. sitzt wegen Inzucht (§173 StGB) im Gefängnis. Erst nach breiten Reaktionen in der Öffentlichkeit fanden sie den Mut zu ihrer Liebe zu stehen. Jüngst beschäftigte ihr Fall sogar das Bundesverfassungsgericht. Dieses bekräftigte das Verbot von Geschlechtsverkehr unter leiblichen Verwandten ausdrücklich im Namen der Familienordnung.

Die Meisten von uns würden nicht einmal auf die Idee kommen, sich in die eigenen Geschwister, die Eltern oder Großeltern zu verlieben oder sich Sex mit ihnen zu wünschen. Schließlich kennt man sich schon sehr lange und freut sich vielleicht eher Abstand gewonnen zu haben und sich ein eigenes Leben aufgebaut zu haben. Doch eine solche „Mehrheit“ findet sich in allen Aspekten menschlicher Liebe und Sexualität. Eine Mehrheit wäre ohne Minderheit nicht was sie ist oder anders: Jede Norm birgt das Potential der Abweichung in sich. Weiterlesen

Per Olov Enquist: Gestürzter Engel

„An den Abenden konnte man sie in ihrem Bett sitzen sehen, der Deckel der Hutschachtel war abgenommen, aber sein Kopf immernoch in der Schachtel, sie unterhielt sich leise und aufrichtig mit ihm, doch manchmal erregte sie sich und überhäufte ihn mit Vorwürfen und Beschimpfungen; es gab Gelegenheiten, da fand sie sein Verhalten unentschuldbar und schlug den Deckel der Hutschachtel zu und stopfte die Schachtel ganz oben in den Kleiderschrank und drohte heftig fluchend damit, ihn nie mehr hervorzuholen.“

„Acht mal hatte er versucht, Selbstmord zu begehen, bevor es ihm glückte. Er hielt ihnen seine Selbstmordversuche gewissermaßen entgegen, nicht um gerettet zu werden, wie es üblich ist, sondern als ein Angebot. Alle Versuche sehr ungeschickt, fast komisch. Beim ersten Mal hatte er seine Armbanduhr genommen, das Armband benutzt, genauer gesagt den kleinen Stahlbolzen, den man in die Löcher steckt, und damit versucht, ein Loch in eine Ader zu stechen. Er hatte gegraben und gegraben und mit dem stupfen kleinen Bolzen ein Loch zustandegebracht, durch das nur wenig blut fließen konnte; ein lächerlicher Versuch.“ Weiterlesen