Tag Archiv für Medizin

Die.Linke und B90/Die Grünen haben wegweisende Anträge gegen die geschlechtszuweisenden Eingriffe bei Intergeschlechtlichen (Intersexuellen) gestellt!

Am 20.3.2013 haben die Bundestags-Fraktionen Die.Linke und Bündnis 90 / Die Grünen wegweisende Anträge gegen die aktuell in der Bundesrepublik Deutschland noch üblichen geschlechtszuweisenden Eingriffe bei Intergeschlechtlichen (Intersexuellen) gestellt. Diese Eingriffe stehen intensiv in der Kritik: Mit ihnen sind nahezu immer schwere und schwerste Komplikationen verbunden und sie werden von den intergeschlechtlichen Menschen als äußerst gewaltvoll und traumatisierend beschrieben. In den Anträgen heißt es nun unter anderem:

„Intersexuelle Menschen sollen als ein gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft anerkannt und dürfen in ihren Menschen- und Bürgerrechten nicht länger eingeschränkt werden. […] Der Deutsche Bundestag sieht und erkennt erlittenes Unrecht und Leid, das intersexuellen Menschen widerfahren ist, an und bedauert dies zutiefst.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher dazu auf, sicherzustellen, dass geschlechtszuweisende und -anpassende Operationen an minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Einwilligungsfähigkeit grundsätzlich verboten werden.“

Es schließen sich weitere sehr gute Forderungen an. Die Anträge im Volltext finden sich hier: Die.Linke und Bündnis 90 / Die Grünen. Eine erste Bewertung hat Zwischengeschlecht.info vorgenommen: hier.

Wenn du dich noch nicht ausreichend über Intergeschlechtlichkeit (Intersexualität) informiert fühlst, gibt es hier knappe Infos.

Intersexualität: Aktuelle Entwicklungen

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst in: SINa – Sexualwissenschaftlicher Interdisziplinärer Nachwuchs, 2 (2012): 7-9.)

In den vergangenen Monaten ist Bewegung in die Debatte um die medizinische Behandlungspraxis von intergeschlechtlichen Kindern gekommen. Von den früher entsprechend dem Programm Behandelten werden die medizinischen Interventionen als gewaltvoll und traumatisierend beschrieben. Auch die wissenschaftlichen Outcome-Studien, die die anatomischen und funktionalen Behandlungsergebnisse sowie die Behandlungszufriedenheit erheben, stützen die Sicht der politisch streitenden behandelten Menschen. Zuletzt kommen Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt (2012) zum Schluss: „Insgesamt fällt eine hohe Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens auf. So litten über 60% der Teilnehmenden sowohl unter einer hohen psychischen Symptombelastung als auch unter einem beeinträchtigten Körpererleben. […] Die psychische Symptombelastung, die z.B. anhand depressiver Symptome, Angst und Misstrauen erfasst wurde, entsprach bei 61% der Befragten einem behandlungsrelevantem Leidensdruck […]. Auch hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität zeigte ein Großteil der Befragten einen hohen Belastungsgrad. […] Fast die Hälfte (47%) der Befragten, die an den Genitalien operiert wurden, berichteten sehr viel häufiger über Angst vor sexuellen Kontakten und Angst vor Verletzungen beim Geschlechtsverkehr als die nicht-intersexuelle Vergleichsgruppe“ (Schweizer et al. 2012: 196f; Übersicht über die internationalen Outcome-Studien in: Voß 2012).

Und auch der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages kommt nach seiner Sitzung im Juni zu einem eindeutigen Urteil. In der Pressemitteilung vom 25. Juni 2012 heißt es: „Operationen zur Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern stellen einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit dar und sollen zukünftig unterbunden werden. Dies war das einhellige Votum der öffentlichen Anhörung im Familienausschuss am Montagnachmittag.“ (Familienausschuss 2012) Weiterlesen

CDU/CSU und FDP wollen geschlechtszuweisende Praxis gegen Intersexuelle beibehalten!

Es zeigt sich, wie sehr die – parteiliche und keineswegs breit informierte – Stellungnahme des Deutschen Ethikrates nach hinten losgeht. In etwas nett klingenden Worten machen CDU/CSU und FDP klar: Sie wollen die als gewaltvoll und traumatisierend kritisierte geschlechtszuweisende Praxis gegen Intersexuelle beibehalten!

Hier ein kurzer Beitrag:
http://dasendedessex.blogsport.de/2012/09/12/cducsu-und-fdp-wollen-die-als-gewaltvoll-und-traumatisierend-kritisierte-geschlechtszuweisende-praxis-gegen-intersexe-beibehalten/

Proteste gegen die geschlechtszuweisende medizinische Praxis gegen Intersexuelle finden, organisiert von Zwischengeschlecht, im September in Hamburg, Leipzig, Halle und Dresden statt. Infos:
http://blog.zwischengeschlecht.info/

Buch zu Intersexualität: Ende der geschlechtszuweisenden Eingriffe erforderlich

Cover Voss Intersexualität  IntersexVor einigen Tagen ist das Buch „Intersexualität – Intersex: Eine Intervention“ erschienen, in dem die Leerstellen der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Intersexualität“ aufgezeigt werden. Dieser hatte u.a. die neueren wissenschaftlichen Ergebnisse zur Behandlungszufriedenheit  und zu den Behandlungsergebnissen der medizinischen Interventionen nicht herangezogen. Das holt das Buch nun nach und es zeigt sich, dass an hand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Erfahrungsberichte der behandelten Intersexe nur eine Lösung möglich ist: Die geschlechtszuweisenden medizinischen Interventionen schaden den behandelten Menschen und müssen daher sofort aufgegeben werden!

Hier nun der Vorstellungstext des Buches:

Oft werden bei der Diagnose «Intersex» im Säuglings- und frühen Kindesalter operative und hormonelle Eingriffe vorgenommen, um ein möglichst eindeutiges Erscheinungsbild der Genitalien zu erreichen. Von den Interessensvertretungen der Intersexe werden diese Eingriffe als gewaltsam und traumatisierend beschrieben. Neue wissenschaftliche Ergebnisse zeigen ebenfalls massive Probleme der Behandlungen auf – der Deutsche Ethikrat berücksichtigte sie nicht für seine Anfang 2012 veröffentlichte Stellungnahme zum Umgang mit Intersexualität. In diesem Band wird der aktuelle Forschungsstand vorgestellt und mit den Forderungen der Intersex-Verbände kontextualisiert. Voraus geht eine Analyse der gesellschaftlichen Umstände, die zur bisher üblichen medizinischen Praxis führten. Darin wird gezeigt dass die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern sowie die sozial strukturierte Angst vor geschlechtlicher Pluralität wichtige Ausgangspunkte dafür waren, Uneindeutigkeiten gesellschaftlich und medizinisch zu tilgen. Vor dem Hintergrund einer wachsenden gesellschaftlichen Anerkennung vielfältiger geschlechtlicher Identitäten wird herausgearbeitet, dass die Begründung der bisherigen medizinischen Behandlungspraxis – sie basierte eben darauf, Menschen Diskriminierungen und Gewalt in einer gegenüber geschlechtlicher Uneindeutigkeit intoleranten Gesellschaft ersparen zu wollen – nicht mehr gegeben ist.

Eine erste Rezension existiert auch schon – bei Mädchenblog:

„Voß [zeigt], dass die Zurichtungen intergeschlechtlicher Körper ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Vorstellung von Geschlechtlichkeit und ihrem Wandel seit der Aufklärung haben, dass die Forderungen des Ethikrates entscheidende Lücken in der Rezeption des (medizinkritischen) Diskurses in Form von Outcome-Studien aufweist und auch deshalb weit hinter den Forderungen der Inter*-Bewegung zurückbleiben muss. Die Veröffentlichung ist ein Beitrag, diese Lücke rechtzeitig zu schließen, um damit – hoffentlich – in weitere politische Entwicklungen zu intervenieren.“ Ganze Besprechung.

Infos zum Buch:

http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,417,18.html

Übersicht zu erschienenen Rezensionen.

Intersexualität: Bei 61 % der Befragten, die geschlechtszuweisende medizinische Eingriffe erlebten, zeigte sich „behandlungsrelevanter Leidensdruck“

Bundestagspetition gegen genitale ZwangsoperationenSchweizer und Richter-Appelt geben in dem aktuellen Band „Intersexualität kontrovers“ einen Ausblick auf weitere Ergebnisse der „Hamburger Studie zur Intersexualität“, die über ihre bisherigen Betrachtungen hinausreichen.

Sie schreiben: „Weitere Ergebnisse beziehen sich auf Aspekte der Lebensqualität in verschiedenen Lebensbereichen. Insgesamt fällt eine hohe Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens auf. So litten über 60% der Teilnehmenden sowohl unter einer hohen psychischen Symptombelastung als auch unter einem beeinträchtigten Körpererleben. […] Die psychische Symptombelastung, die z.B. anhand depressiver Symptome, Angst und Misstrauen erfasst wurde, entsprach bei 61% der Befragten einem behandlungsrelevantem Leidensdruck […]. Auch hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität zeigte ein Großteil der Befragten einen hohen Belastungsgrad. […] Fast die Hälfte (47%) der Befragten, die an den Genitalien operiert wurden, berichteten sehr viel häufiger über Angst vor sexuellen Kontakten und Angst vor Verletzungen beim Geschlechtsverkehr als die nicht-intersexuelle Vergleichsgruppe“. (aus: „Intersexualität kontrovers“, S.196f)

Michael Groneberg kommt vor dem Hintergrund dieser und weiterer Behandlungsergebnisse der frühen geschlechtszuweisenden Interventionen bei Intersex zu dem Schluss: „Zu fragen, welche spezifischen Eingriffe zur Geschlechtsanpassung zu vermeiden sind, folgt der falschen Logik. Vielmehr gilt: Kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes zum Zweck der Geschlechtsanpassung oder -zuweisung ist erlaubt. Ausnahmen wie die Abwendung von Gefahr für Leib und Leben sind klar zu regeln und zum Teil bereits geregelt. […] Auch die UN-Kinderrechtskonvention stellt die Geschlechtsidentität unter Schutz und setzt der Entscheidungsgewalt der Eltern eindeutige Grenzen“. (aus: „Intersexualität kontrovers“, S.498) Zu dieser Aussage kommt er, weil medizinische Behandlungen grundlegend darauf orientieren sollen, Menschen zu nutzen und nicht ihnen zu schaden.

Mittlerweile ist die Datenlage erdrückend, dass geschlechtszuweisende Interventionen, die oft schon im frühen Kindesalter stattfinden (und übrigens medizinisch nicht notwendig sind), massives Leiden bei den so Behandelten verursachen. Sie widersprechen grundlegend den medizinethischen Prinzipien und müssen ein Ende haben. Dieses Ende ist durch die anstehenden Beratungen und Entscheidungen im Bundestag (und dessen familienausschuss) möglich -das weitere Streiten für das Ende der Interventionen nötig.

(„Intersexualität kontrovers: Grundlagen Erfahrungen Positionen“, erschienen im Psychosozial-Verlag, Link zum Buch.)

Intersex – zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Intersexualität“

Autor_in: Heinz-Jürgen Voß

Mit der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Intersexualität wird einmal mehr die Parteilichkeit im Diskurs deutlich. In der Stellungnahme wird nahtlos an die umstrittene medizinische Terminologie angeschlossen, in der Intersexualität oft im Sinne einer Krankheit beschrieben wird. Von Intersexen wird hingegen seit längerem gefordert unparteiisch und nicht-wertend von Varianzen beziehungsweise Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung zu sprechen. Um einer Überparteilichkeit nahe zu kommen und einen ethisch geprägten Beitrag zur Diskussion zu leisten, wäre es nötig gewesen, schon auf der Ebene der Begrifflichkeiten den Positionen der streitenden Parteien gleichberechtigt Rechnung zu tragen.

Damit nicht genug: Sind die biologischen Beschreibungen in der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates für diesen fast schon peinlich, da sie kaum über die Glaubenssätze zur Geschlechtsentwicklung in populären Zeitschriftenartikeln hinausgehen und in jedem Fall von einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme weit entfernt bleiben, so entwickelt sich diese „Laxheit“ im Umgang mit dem medizinischen Forschungsstand zum Problem. Hier werden die aktuellen Ergebnisse internationaler Fachveröffentlichungen, in denen die Behandlungen nach dem bisherigen medizinischen Behandlungsprogramm auf ihr anatomisches und funktionales Ergebnis geprüft und die Zufriedenheit der Behandelten erhoben wurden (so genannte „Outcome-Studien“), überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Seit 2010 sind hier zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, auch bereits Review-Artikel, die einen Überblick bieten. Aber in der Stellungnahme des Ethikrates werden lediglich die zwei älteren deutschsprachigen Studien aufgegriffen und wurde eine kleinere eigene Online-Befragung durchgeführt. Dabei wendet sich schon eine der deutschsprachigen Studien gar nicht der „Kernfrage“ zu, die den Ethikrat interessiert. Die Studie um Richter-Appelt erhob nicht das Outcome der Behandlungen. Stattdessen prüfte sie, ob sich bei den Behandelten eine stabile und eindeutige Geschlechtsidentität (Anm. 1) ausgeprägt hatte. 2007 – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studienergebnisse – sahen die Autorinnen um Richter-Appelt diese Ausprägung eindeutiger Geschlechtsidentität schon dann als beeinträchtigt an, wenn sich Homosexualität zeigte. Mittlerweile hat sich diese Position in der Arbeitsgruppe gewandelt. Aber selbst die interessanten neueren Ergebnisse aus dieser Arbeitsgruppe werden vom Ethikrat nicht herangezogen. Schönbucher et al. (2010) hatten eine Stichprobe von Intersexen, die operativ behandelt worden waren, mit einer anderen Stichprobe verglichen, bei der keine operative Behandlung stattgefunden hatte. Sie stellten fest, dass diejenigen, die operativ behandelt wurden, häufiger über sexuelle Probleme klagten und Unzufriedenheit mit dem Sexualleben angaben, als die, die chirurgisch unverändert geblieben waren. Weiterlesen