Tag Archiv für Sozialismus

Marx hören und verstehen – eine Gesellschaft für alle Menschen gestalten!

Die aktuelle Krise führt brutal vor Augen, dass es notwendig ist, eine Gesellschaft zu entwickeln, die allen Menschen gerecht wird – und in der nicht die vielen Menschen für die Privilegien einiger Weniger arbeiten müssen.

Aktuell ist es tatsächlich möglich, dass auf Nahrungsmittel gewettet wird – anstatt, dass sie gegessen werden können. Das Wetten führt dazu, dass die Lebensmittel für viele Menschen unerschwinglich werden. Die Verarmung der Menschen und sich daran anschließende Unruhen könnten zu ganz krassen Reaktionen der Privilegierten führen – zu einem Abbau demokratischer Bestimmung, zu noch gewalttätigeren Einsätzen der Polizei (oder gar der Armee), als wir sie bisher kennen. Solche Entwicklungen zeigen sich in Europa bereits deutlich. In der Bundesrepublik Deutschland wird von Seiten der Behörden das demokratische Grundrecht, dass sich Menschen versammeln und demonstrieren können, massiv eingeschränkt. Und dabei steht eben nicht im Grundgesetz, dass sich die Menschen versammeln dürfen, wenn staatliche Behörden nichts dagegen haben.

Eine andere gesellschaftliche Entwicklung ist möglich – und nach neueren Umfragen zeigen sich knapp 80 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland mit Kapitalismus unzufrieden. Und Alternativen sollte man aus Erfahrungen lernen und Ansätze weiterentwickeln – hierfür bieten einerseits die Entwicklungen in Südamerika aktuelle praktische Ansatzpunkte. Andererseits lohnt es sich, anknüpfend an die Theorien von Karl Marx weiterzuarbeiten. Hierfür gibt es einiges neues und gutes Material:

1) Die Broschüre „Polylux Marx“ für die Bildungsarbeit.Sie ist hier im Volltext online: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/PolyluxMarx.pdf

 

2) Online finden sich mittlerweile viele gute Vorträge – auch zum Nachhören. Eine gute Sammlung hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung hier angelegt:

 

3) Schließlich gibt es auch einige gute Anschlussmöglichkeiten explizit zu Geschlecht und Sexualität. Hier findet sich eine Übersicht von Texten bzw. ein Vorschlag, wie man sich in die Debatte hineinlesen – und dann selbst weiterdenken und praktisch handeln kann: http://schwule-seite.de/wp/queer-kapitalismuskritik-vorschlag-zur-annaherung-an-die-debatte/ .

Queer & Kapitalismuskritik – Vorschlag zur Annäherung an die Debatte

Zur unbedingt notwendigen Verbindung von Queer & Kapitalismuskritik ist eine breitere Debatte in Gang gekommen, die es lohnt, zu verfolgen und fortzusetzen. Es erscheint mir wichtig, nicht einfach die „Wertabspaltungstheorie“ von Roswitha Scholz zur Kenntnis zu nehmen und sie dann stetig zu wiederholen, sondern damit weiterzuarbeiten! Interessant sind hierzu einerseits Überlegungen, warum es niemals im Sinne kapitalistischer Produktionsweise (kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse) war, alle Frauen aus der Erwerbsarbeit auszuschließen (vgl. Punkt [4] im Folgenden), sondern auch die aktuellen neoliberalen Verhältnisse zu reflektieren, diese zu verstehen und praktisches Handeln abzuleiten (hierzu [4] und [5] im Folgenden). Die Antworten werden intersektional sein müssen – warum wird bei der Lektüre von [6] deutlich. Nun die entstandene Diskussion:

1) Dieser Beitrag löste die Debatten aus: „Diverser leben, arbeiten und Widerstand leisten – Queerende Perspektiven auf ökonomische Praxen der Transformation“ (Kathrin Ganz, Do. Gerbig)

2) Es erschien darauf hin diese Kritik: „Queerfeministische Ökonomiekritik? Eine Randnotiz zum Ende des Kapitalismus“ (Salih Alexander Wolter)

3) Hier wurde diese Kritik noch einmal unterlegt: „Weg mit dem Queer-Ding! Ansätze für eine queere Kapitalismuskritik“ (Heinz-Jürgen Voß)

4) Es gilt sehr grundsätzlich die Verwobenheit von Geschlecht und Kapitalismus zu verstehen – unter anderem warum Kapitalismus stets auch auf Frauenarbeit zielte und warum die Differenzierung in zwei Geschlechter so gut nutzbar ist: Geschlecht und kapitalistische Produktionsweise – Queer und Antikapitalismus: Skizzen für neue Perspektiven (Heinz-Jürgen Voß)

5) Einige weitere wichtige Überlegungen, wie wir weiterdenken und eine Praxis entwickeln können, finden sich hier: a) In diesen Arbeiten von Volkmar Sigusch (u.a. „Die Mystifikation des Sexuellen“). b) In diesem zentralen Aufsatz von Nancy Peter Wagenknecht („Formverhältnisse des Sexuellen“). c) In dem von Heike Friauf hrsg. Band „Eros und Politik“, dort u.a. der Beitrag von Leo Kofler „Eros, Ästhetik, Politik – Thesen zum Menschenbild bei Marx“.

6) Das Buch „Queer und (Anti-)Kapitalismus“ (von Heinz-Jürgen Voß / Salih Alexander Wolter; Stuttgart 2013: Schmetterling Verlag)

7) Perihan Mağdens Roman „Ali und Ramazan“ macht sehr gut literarisch klar, dass und wie ökonomische und sexuelle Fragen in Verbindung stehen (also: „Intersektionalität“!). Die Autorin stellt ihrem Buch ein Zitat voran: „Leute, die über Revolution reden, oder über Klassenkampf, ohne sich dabei explizit auf das alltägliche Leben zu beziehen, die nicht verstehen, was subversiv an der Liebe ist und was positiv ist an der Zurückweisung von Beschränkungen, solche Leute haben eine Leiche in ihrem Mund.“ Rezensionen, die die Anschlussmöglichkeiten für Queer & Kapitalismuskritik umreißen, finden sich hier und hier.

Empört Euch!

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst in „Rosige Zeiten“, Nr. 138)

In den letzten Jahren haben sich an zahlreichen Orten in der ganzen Welt Menschen empört. Von Arabien, über Spanien und Griechenland bis zur USA haben viele Tausende Menschen deutlich gemacht, dass sie anders leben wollen und dass sie selbst bestimmen wollen, was in ihrem Land passiert. Weder von Regimen, noch von vermeintlich freien demokratischen Regierungen, die zum Spielball der Finanzbranche geworden sind, wollen sie sich gängeln lassen.
In der Bundesrepublik Deutschland kam von all dieser Aufregung kaum etwas an. Ausnahme waren die kurzen und lautstarken Proteste zu Stuttgart 21, die sich zu Massenprotesten entwickelten. Aber mit einem Vermittlungsverfahren unter Geißler und einem grünen Ministerpräsidenten im Land, wurden die Proteste rasch wieder klein – und kann als Ergebnis nun doch der Bahnhof gebaut werden. Interessant war das Verfahren dennoch für das Funktionieren der Demokratie in diesem Land: Schon ganz zu Beginn der Planungen von Stuttgart 21 vor einem Dutzend an Jahren protestierten Bürgerinnen und Bürger. Sie wurden von der Deutschen Bahn vertröstet – es hieß, dass es noch genügend Raum zur Mitgestaltung geben werde. Dieser Raum wurde nie gewährt, stattdessen waren auf einmal vollendete Tatsachen geschaffen und konnte das Projekt unter anderem mit dem Argument vorangetrieben werden, dass doch schon 1.000.000.000 EUR in die Planungen und ersten Baustufen geflossen seien. Interessant auch für das Verständnis von Demokratie: Wäre nur in Stuttgart abgestimmt wurden, wäre das Ergebnis des Volksentscheides sehr knapp. Da ganz Baden-Württemberg abstimmte, verschob sich das Ergebnis stark zu Gunsten der Befürworter von Stuttgart 21. Über den Radius des Abstimmungsraumes lässt sich also das Ergebnis beeinflussen. Das könnte für die Umsetzung der – ebenfalls unter Kritik stehenden – norddeutschen Y-Trasse der Deutschen Bahn eine wichtige Erkenntnis sein. Aber auch für die Abstimmung in einem Volksentscheid zu einem Endlager für radioaktiven Abfall ist das eine wichtige Erkenntnis. Weiterlesen

Kapitalismuskritische Perspektiven im Anschluss an Volkmar Sigusch

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst veröffentlicht bei www.kritisch-lesen.de (Direktlink); Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

 

Volkmar Siguschs 1984 erschienenes Buch „Die Mystifikation des Sexuellen“ bietet gute Anknüpfungspunkte, um die Eingebundenheit der Kategorien „Geschlecht“ und „Sexualität“ in die kapitalistische Produktionsweise verstehen und Ableitungen für emanzipatorisches Streiten treffen zu können. Zusammen mit weiteren – auch neueren – Arbeiten Siguschs ergeben sich Anschlussmöglichkeiten für die kapitalismuskritische und antikapitalistische Fortentwicklung feministischer und queer-feministischer Ansätze.

Nach dem Zusammenbruch „des Ostblocks“ seit dem Ende der 1980er Jahre setzte sich zunächst eine breite Enttäuschung und Lethargie bezüglich gesellschaftlicher Alternativen durch. Eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem erschien vielen als quasi unmöglich. Gleichzeitig brachen auch „im Westblock“ – insbesondere in den „alten Bundesländern“ der dann um die „neuen Bundesländer“ vergrößerten Bundesrepublik Deutschland – große Teile der linken, sozialistischen Infrastruktur weg, die zuvor über Unterstützung aus dem Lager sozialistischer Staaten mitfinanziert worden war. Ergebnis auch dieser beiden Entwicklungen war es, dass es um kapitalismuskritische oder gar antikapitalistische Ansätze zunächst still wurde. Waren in den 1980er Jahren in der DDR und der BRD Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem auch feministisch (und teilweise schwul) erdacht wurden, die auf Gleichberechtigung von Frauen und Männern zielten und sich gegen eine staatliche Reglementierung von Sexualität wandten, so kamen nun feministische Ansätze diesbezüglich zahnlos daher, fand lediglich noch eine Beschreibung des Lebens von Frauen und Männern auf Basis der derzeitigen Wirtschaftsordnung statt. Diese Entwicklung betraf auch die einsetzenden queer-feministischen Überlegungen, die sich gegen die Grundannahme binärer Geschlechtlichkeit wandten (und die die Kritiken an heterosexuellen Normen und Zwängen befeuerten). Ist zwar schon in dem Begriff der „Performativität“ im Anschluss an die „Queer-Ikone“ Judith Butler deutlich angelegt, wie das stete Aufgreifen von Zeichen und Symbolen durch die Menschen selbst erst zur steten Herstellung von Geschlecht führt und wie den Menschen dieser Zusammenhang aber nicht klar wird, weil ihnen der Zusammenhang ihrer eigenen Tätigkeit und ihres eigenen Zusammenleben als „vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende“ (Karl Marx, „Die deutsche Ideologie“) Erscheinung vorkommt, so gelingt es vielen Rezipient_innen von Butlers Theorien nicht, an diesen kapitalismuskritischen Fingerzeig anzuschließen. Geschlecht ist – und das macht Butler in „Gender trouble“ („Das Unbehagen der Geschlechter“) klar – eben nicht einfach da, sondern ist gesellschaftlich eingebunden und entsteht erst durch das stete und ständige Tun der Menschen. Weiterlesen

„Einer der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte“ – Doppelrezension zweier Bücher von und über Ronald M. Schernikau

von Ralf Buchterkirchen

irgendwer hat den leuten eingeredet, wir alle müssen sterben, das ist natürlich völliger humbug. keiner stirbt, wenn er nicht will, und jeder lebt, solange er weitermacht, das problem ist: die leute machen nicht.
R.M. Schernikau, Legende

Ronald. M. Schernikau, geboren 1960 in Magdeburg, ging 1965 mit seiner Mutter in den Westen. Mit 19 Jahren veröffentlichte er die   ‚Kleinstadtnovelle‘ – diese  Geschichte über Coming Out in der Provinz wurde sein erfolgreiches Debüt. Nach dem Abitur zog er nach Berlin, lernte dort unter anderem Mathias Frings und die Westberliner Polit- und Schwulenszene kennen. Jedoch versuchte er weitgehend erfolglos einen Verlag für seine späteren Arbeiten zu finden. 1987 gelang es ihm,  in der DDR, am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher, zu studieren. Als Abschlussarbeit entstehen „Die Tage in L“. In der DDR werden sie nicht gedruckt, ihr Erscheinen im Westen fällt mit dem Fall der Mauer zusammen. Im September 1989 wird Schernikau DDR-Bürger, arbeitet an der „Legende“ – seinem Hauptwerk. 1991 stirbt Ronald M. Schernikau mit 31 Jahren an AIDS.
Dieses Jahr sind zwei Bücher erschienen, die sich auf unterschiedliche Weise dem Leben Schernikaus zuwenden und die je sehr verschieden mit dem Leben des Künstlers verbunden sind. Mathias Frings zeichnet in ‚Der letzte Kommunist‘ anhand ihrer gemeinsamen Biographie das Leben des Ronald M. Schernikau höchst amüsant, aber auch nachdenklich nach.
‚Irene Binz. Befragung‘ ist hingegen die Lebensgeschichte von Ellen Schernikau, Ronalds Mutter, die sie ihm – er war damals 21 Jahre alt – in langen Interviews erzählte und zum Geschenk machte. Gut lesbar, mit dem Eindruck der Naivität sichtlich spielend, hat Ronald M. Schernikau diese Interviews in einen Roman verwandelt. Beide Bücher bilden einen spannenden unverstellten Blick auf deutsch-deutsche Geschichte und beschreiben direkt und indirekt einen der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte. Aber der Reihe nach: Weiterlesen

Weder Gott noch Gen. Heinz-Jürgen Voß´ „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“

(Rezension von Salih Alexander Wolter, vorab aus „red & queer“, Nr.19 [2011]; die Rezension ist online bei „Leipziger Kritiken“ – , Veröffentlichung mit freundlicher Zustimmung der Redaktion und von Salih Alexander Wolter)

Geschlecht: Wider die NatuerlichkeitVorweg: Unvoreingenommen kann ich dieses Buch nicht besprechen. Ich bin mit seinem Autor seit langem eng befreundet, habe ihn darin bestärkt, es zu schreiben, und selbst gern das Lektorat übernommen – honorarfrei, versteht sich. Denn ich hoffe, dass es zu einer fruchtbaren Diskussion über das Verhältnis von Queer Theory und Marxismus beitragen wird. Mögliche Anschlüsse bietet eine Einsicht, die Robert Steigerwald bereits 1987 im „Blauen Heft“ formulierte, das auf www.dkp-queer.de verfügbar ist: „Im Menschen wirkt kein Dualismus von biologisch angeborenen Verhaltensweisen einerseits und gesellschaftlichen andererseits, sondern Gesellschaftlichkeit wurde zu unserer Natur und bestimmt sämtliche unserer Verhaltensweisen.“
Heinz-Jürgen Voß, eben 31 geworden, gebürtiger Sachse und in der queer-politischen Szene seit Jahren als quirliger linker Aktivist bundesweit bekannt, ist Diplom-Biologe und promovierte im vorletzten Dezember „summa cum laude“ bei dem Sexualwissenschaftler Rüdiger Lautmann in Bremen. Diese Dissertation – unter dem Titel „Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ vor Jahresfrist veröffentlicht – wird seither ungewöhnlich breit und kontrovers rezipiert und geht demnächst in die dritte Auflage. „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“ stellt einerseits eine auch für Nicht-Fachleute gut verständliche Zusammenfassung der Studie dar und nimmt andererseits die laufende Debatte auf, in der sich Voß gegen die verbreitete Tendenz stellt, „subversives“ queeres Denken mit der kapitalistischen Ordnung zu versöhnen. Dabei ist seine inzwischen deutlich marxistische Positionierung seinem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet: Statt sich mit den gängigen „Eindeutschungen angloamerikanischer Herrschaftskritiken, die zu praxisfreien Denkmodellen umgemodelt wurden“, zu begnügen, zeigt er – wie ein Fach-Rezensent des Erstlings lobte – „klar und deutlich, wie Wege der Erkenntnis in Zukunft zu beschreiten sind: nicht vereinfachend, sondern komplex, multikausale Ursachen erwägen, materielle Aspekte nicht vergessen, stets die Frage `Cui bono?´“. Weiterlesen

Weg mit dem Queer-Ding! Ansätze für eine queere Kapitalismuskritik

Debattenbeitrag im Anschluss an arranca Nr. 41 und red & queer Nr. 16 zu aktuellen deutschsprachigen Arbeiten „queerer Ökonomiekritik“; verfasst von Heinz-Jürgen Voß.

Eine Situationsbeschreibung
In der Ausgabe der lesbisch-schwulen Zeitschrift Siegessäule Juli/2008 wurde unter dem Titel „Queer gewinnt“ ein abschließendes plastisches Bild davon gezeichnet, wie „Queer“ nicht nur in Subkulturen verstanden, sondern wie es aktuell auch in der deutschsprachigen Rezeption der „Queer theory“ verhandelt wird. „Berlin ist total queer. Wir feiern das, wir sind mal so frei. Doch leider gibt’s immer noch genug Leute, die uns das vermasseln wollen“ – heißt es dort, womit punktgenau die Problemfelder benannt sind, die eine unbedingte Kritik an Queer und derzeit prominent verhandelten deutschsprachigen Arbeiten zu „Queerer Ökonomiekritik“ notwendig machen.
Queer muss an dieser Stelle nicht grundsätzlich erläutert werden; es sei nur zu den bislang verbreiteten Definitionen seines perversen, verstörenden, zu Normierungen und kollektiven Identitäten kritischen Charakters hinzugefügt, dass Queer einen Ursprung in radikalen politischen Bewegungen hat. Queer wurde nicht in abgeschlossenen Elfenbeintürmen als abstraktes Gedankengebäude erdacht, wie es derzeit mit den ausschließenden Verhandlungen an Universitäten und auf Konferenzen den Anschein macht, schon gar nicht wurde es von Männern und Frauen einer weißen bürgerlichen Mittelklasse entwickelt. Irgendwann war es nur sexy und einladend genug auch für diese – und im deutschsprachigen Raum kommt noch diese anziehende sprachliche Unverständlichkeit hinzu, die weniger Abwehr erwarten lässt, als wenn man sich als „Schwuchtel“ oder „Tunte“ bezeichnete. Weiterlesen

Michal Witkowski: Lubiewo

(übersetzt aus dem Polnischen von Hauptmeier; die Rezension ist erschienen in „Rosige Zeiten – das regionale Magazin aus Oldenburg für Lesben und Schwule“, 116, Juni/Juli 2008, online unter: http://www.rosige-zeiten.net)
„Also gut, Herr Journalist, der Park wird Klappe oder Boulevard genannt. Wenn man dort herumstreunt, dann heißt das Durch-die-Büsche-Ziehen. Die Klappe dient zur Anmache. Das heißt: zum Aufreißen. Zwecks Blasen. Das heißt: Lutschen. Diese Parks hat es immer gegeben, seit ich lebe und Schwänze lutsche, also seit vor dem Krieg. Früher zog sich die Klappe durch die ganze Stadt, und genau so sollte dein Roman über uns beginnen. ‚Die Gräfin verließ das Haus um halb zehn‘ und ging in den Park, denn zehn Uhr abends ist die beste Zeit für einen kleinen Schwengel.“ (S.19) Patrycja und Lukrecia klären Michal so liebevoll auf, obgleich sie wissen, dass er es gar nicht nötig hat. Michal kennt sich bestens in der Szene aus, Michal, der nun einen Roman schreibt, in dem sie endlich im Mittelpunkt stehen dürfen und dies sichtlich genießen. „Lubiewo“ heißt der Roman, benannt nach dem Badestrand an der polnischen Ostseeküste. In Krakau in Polnisch veröffentlicht und dort nun mittlerweile in der 7. Auflage erschienen, liegt nun eine deutsche Übersetzung vor, die sich aufmacht ebenso gut verkauft, das deutsche Bild von polnischen Schwulen umzukrempeln: polnische Schwule sind nicht diese leidvollen Gestalten, die stets und von allen unterdrückt nach deutscher Unterstützung lechzen. Sie haben Freude, sie haben Sex, sie benutzen die echten Hetero-Kerle, sie sorgen sich um das materielle Auskommen, sie gehen in die Kirche, sie geben Kontaktanzeigen auf, sie vergehen sich, sie verachten, sie werden auch mal ermordet. Das es gar kein solches „sie“ – „die“ polnischen Schwulen – gibt, dafür ist der Roman bestes Belegstück: das schwule Polen. Weiterlesen

Schwule DDR – Doppelrezension: Setz (2006): „Homosexualität in der DDR“, Lemke (1989): „Ganz normal anders“

„In diese Wohnung bin ich Anfang der fünfziger Jahre gezogen. Vor meinem Einzug ging der Abschnittsbevollmächtigte von Haushalt zu Haushalt, da wo junge Männer lebten, und informierte: Erster Hinterhof, Mitte, zwei Treppen, rechts, da zieht ab nächsten Ersten so einer ein. Vorsicht. Eine bessere Reklame konnte der für mich gar nicht machen. Es dauerte knapp zwei Wochen, da hörte ich das erste schüchterne Klopfen an meiner Tür…“ (Lemke, S.30/31, Setz, S.16)

Es ist nicht leicht, ein komplexes Bild einer ganzen Gesellschaft zu zeichnen. Man hat die Möglichkeit der Annäherung über rechtliche Grundlagen oder über persönliche Erfahrungen. Beide Sichtweisen lassen Lücken, werden notwendiger Komplexität nicht gerecht. Mut zur Lücke heißt aber auch, Freiräume zu lassen, für viele Erfahrungen, oder Interpretationen, kein Bild festzuzurren, dass es eindeutig wohl gar nicht gegeben hat, sondern bewegte Bilder zuzulassen die vielmehr surrealistisch, ständig verändernd neue Anforderungen an die Wahrnehmung formulieren. Zur DDR haben viele Menschen abgeschlossen. Entweder das Bild der verlorengegangenen sozialistischen ‚heilen Welt’ oder des fundamentalen, sämtliche individuellen Rechte beschneidendenden sozialistischen Ungetüms herrscht vor. Seien wir nicht so voreilig. Nehmen wir uns Zeit und entwerfen differenzierte Bilder der Vergangenheit, um daraus lernen und neue emanzipatorische Entwicklungen gewinnen zu können. Weiterlesen