„In diese Wohnung bin ich Anfang der fünfziger Jahre gezogen. Vor meinem Einzug ging der Abschnittsbevollmächtigte von Haushalt zu Haushalt, da wo junge Männer lebten, und informierte: Erster Hinterhof, Mitte, zwei Treppen, rechts, da zieht ab nächsten Ersten so einer ein. Vorsicht. Eine bessere Reklame konnte der für mich gar nicht machen. Es dauerte knapp zwei Wochen, da hörte ich das erste schüchterne Klopfen an meiner Tür…“ (Lemke, S.30/31, Setz, S.16)
Es ist nicht leicht, ein komplexes Bild einer ganzen Gesellschaft zu zeichnen. Man hat die Möglichkeit der Annäherung über rechtliche Grundlagen oder über persönliche Erfahrungen. Beide Sichtweisen lassen Lücken, werden notwendiger Komplexität nicht gerecht. Mut zur Lücke heißt aber auch, Freiräume zu lassen, für viele Erfahrungen, oder Interpretationen, kein Bild festzuzurren, dass es eindeutig wohl gar nicht gegeben hat, sondern bewegte Bilder zuzulassen die vielmehr surrealistisch, ständig verändernd neue Anforderungen an die Wahrnehmung formulieren. Zur DDR haben viele Menschen abgeschlossen. Entweder das Bild der verlorengegangenen sozialistischen ‚heilen Welt’ oder des fundamentalen, sämtliche individuellen Rechte beschneidendenden sozialistischen Ungetüms herrscht vor. Seien wir nicht so voreilig. Nehmen wir uns Zeit und entwerfen differenzierte Bilder der Vergangenheit, um daraus lernen und neue emanzipatorische Entwicklungen gewinnen zu können.
Zum Beispiel mit einer guten Lektüre als ersten Schritt… Differenzierte erste und sehr unterschiedliche Ansätze bieten Setz (2006, Hrsg.): Homosexualität in der DDR – Materialien und Meinungen. Und: Lemke (1989): Ganz normal anders – Auskünfte schwuler Männer. Setz stellt eine Bestandsaufnahme zur Verfügung, die sich der rechtlichen Situation, dem Wirken der staatlicher Organe wie der Staatssicherheit, medizinischen Ausführungen und in einer Zeitleiste einer ausgewählten geschichtlichen Entwicklung von Recht, gesellschaftlicher Situation und medialer Öffentlichkeit widmet. Sämtliche Beiträge sind dabei explizit als subjektiv und unabgeschlossen ausgewiesen. Lemke legt eine Aneinanderreihung zahlreicher Interviews vor, die er über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren aufgenommen hatte. Schwule in der DDR der 1970er und 1980er Jahre kommen zum sprechen und berichten von ihren wechelvollen Geschichten und Erfahrungen.
Warmkalt läuft es den Rücken runter, wenn mensch auf einigen Seiten erotische Erfahrungen förmlich aufsaugt und einige Seiten weiter von Verhaftungen, Untersuchungen durch Ärzte, Verlust der selbst entworfenen beruflichen Zukunft liest. In einem solch widersprüchlichem, anspannendem Erleben haben sich Schwule in der DDR befunden, die bei Lemke ausführlich davon berichten. Sie arrangierten sich, lebten, kämpften im Kleinen für ihre Rechte, nicht durch ihre Mitmenschen und Staatlichkeiten diskriminiert zu werden. Einige wählten den Ausreiseantrag und sehnten sich nach mehr freiheitlichen Möglichkeiten in der BRD (Setz), andere blieben. Nicht wenige von ihnen stritten für eine Emanzipation des Sozialismus in der DDR, für eine tatsächliche Entfaltung des Sozialismus. Sozialismus konnte nur werden, mit Entfaltung individueller Freiheitsrechte und Stützung der Einzelnen.
Rechtlich war die DDR der BRD bei der Legalisierung von gleichgeschlechtlichem Sexualverkehr voraus. Die Strafbarkeit von diesem unter Erwachsenen wurde 1968 abgeschafft, bereits seit 1957 wurde gleichgeschlechtlicher Sexualverkehr kaum noch bestraft (Setz, 2006 S.16, 98-105). Allerdings bestand der §151 fort, der explizit gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen bestrafte (und sich im Übrigen auf gleichgeschlechtliche Handlungen ‚beider’ Geschlechter erstreckte, im Gegensatz zu seinem Gegenstück in der BRD, das sich ausschließlich auf die Illegalisierung männlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen beschränkte (Setz, S.17)). Ende 1988 wurde der §151 in der DDR ersatzlos gestrichen (Setz, S.82). Gleichgeschlechtlicher Sexualverkehr unter erwachsenen Männern war in der BRD seit 1969 straffrei, die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Männern fiel 1994 mit einer Rechtsangleichung weg (Setz, S.15-17).
Diese ‚frühe’ Streichung schwulenfeindlicher Paragrafen in der DDR hatte aber nicht zur Folge, dass offen über Schwulsein gesprochen werden konnte, dass sich eine tolerante Haltung in der Bevölkerung der DDR etablierte o.ä.. Vielmehr wurden Bestrebungen von Schwulen, die sich zusammenschlossen, kulturell oder politisch agieren oder einfach austauschen wollten, argwöhnisch von staatlichen Behörden beäugt und eine moralische Gefährdung der Jugend durch öffentliche schwule Darstellungen angenommen. Entsprechend wurde spioniert und wurden einzelne Lokalitäten, in denen sich vornehmlich Männer trafen, geschlossen. Ein Interview mit einem Stasi-Offizier und mit einem Überläufer geben bei Setz einen ungewöhnlichen Einblick.
Seit den 1980er Jahren wandelte sich die Situation zunehmend. Bücher erschienen, die FDJ (Freie Deutsche Jugend, SED-Jugendorganisation) thematisierte die Bedrückung schwuler Genossen, Ende der 1980er Jahre erschien der Dokumentarfilm „Die andere Liebe“, berichtete das Jugendradio „DT64“ provokant (welches übrigens kurz nach der Wende, gegen den massenhaften Protest Jugendlicher, ‚abgewickelt’ wurde) (Setz, S.69-78).
Geschichte ist differenziert, beide Bücher bieten die Möglichkeit einer mehrschichtigen Annäherung – und helfen den eigenen beschränkten Blick zu erweitern. Ein Manko sei zum Schluss nicht verschwiegen: Lesben in der DDR werden auch von diesen beiden Büchern weitgehend verschwiegen und bei Setz – hier legt die Überschrift eigentlich eine umfassende Betrachtung von ‚Homosexualität’, also eigentlich auch ganz selbstverständlich lesbischer Sexualität nahe – auf ggf. spätere Publikationen verwiesen. Ein Ansatz zunächst aus lesbischer Perspektive sich der Situation von Homosexuellen im Allgemeinen anzunähern, wäre ein anderer und für diese wie auch andere Thematiken überdenkenswerter!
heinzi
Lemke, J. (1989): Ganz normal anders – Auskünfte schwuler Männer. Aufbau Verlag, Weimar. ISBN: 3351014554. Im Gebrauchtbuchhandel ab 2,50 €.
Setz, W. (2006, Hrsg.): Homosexualität in der DDR – Materialien und Meinungen. Männerschwarm Verlag. ISBN: 3935596421. Neupreis: 14 €, gebraucht ab 12 €.
geschrieben von Heinz-Jürgen Voß
Schreibe einen Kommentar