(gedruckt in „Rosige Zeiten“, Oldenburg, Nr. 115)
Christiane Völling war mit einer Klage vor dem Kölner Landgericht erfolgreich. Sie hatte eine (männlich sozialisierte) Chirurgin* auf Schmerzensgeld verklagt, die ihr vor 30 Jahren innere, als geschlechtlich betrachtete Merkmale entfernt hatte. Das Gericht sprach ihr am 6. Februar 2008 ein Anrecht auf Schmerzensgeld zu, dessen Höhe in einem weiteren Prozess zu verhandeln sei. Als Begründung für die Entscheidung führte das Gericht an, dass Völling durch die Medizinerinnen nicht ausreichend aufgeklärt worden sei.
Dieser Prozess ist ein Präzedenzfall. Er unterstreicht eine Entwicklung, die seit einigen Jahrzehnten vermehrt das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen in den Blickpunkt rückt. Von Medizinerinnen wird verlangt, Patientinnen ausreichend über medizinische Eingriffe zu informieren. Die Informationen sollen die Patientinnen in die Lage versetzen, selbstbestimmt über medizinische Eingriffe zu entscheiden. Erfolgt eine solche Aufklärung nicht oder nicht in ausreichendem Maß, machen sich Medizinerinnen rechtlich belangbar.
In Bezug auf Geschlecht galt es bislang als notwendig (und gilt es noch immer), Kindern innerhalb der ersten Lebenstage eines von zwei Geschlechtern zuzuweisen. In Zweifelsfällen war hierzu die Medizin gefragt. Meist ohne hinreichende Aufklärung willigten die Eltern in vielen Fällen in chirurgische und hormonelle medizinische Behandlungen ein, die das Leben der mit uneindeutigem Geschlecht Geborenen in der Folge bestimmten.
Bei Christiane Völling war dies anders. Aufgrund einer vergrößerten Klitoris wurde sie bei Geburt als Junge eingeordnet. Die Eltern zogen sie als Jungen auf. Im Alter von 14 Jahren zeigte sich Bartwuchs, das Geschlecht stand zu keinem Zeitpunkt in Frage. Bei einer Blinddarmoperation wurden Gebärmutter und Eierstöcke (als typisch weiblich betrachtete innere Genitalien) festgestellt. Ein Jahr später, im Alter von 17 Jahren, erfolgte die Operation, bei der Gebärmutter und Eierstöcke entfernt wurden.
Im Operationsprotokoll wurde vermerkt, dass Gebärmutter und Eierstöcke voll entwickelt gewesen seien. Dennoch entschied sich das Operationsteam für die Durchführung der Operation. Die das Skalpell führende Chirurgin wurde im Jahr 2007 verklagt, gegenüber den anderen Beteiligten war ein Anspruch auf Entschädigung verjährt. Völling führte im Prozess an, dass ihr nie jemand etwas über den tatsächlichen Grund des Eingriffs gesagt habe. Sie wisse erst darüber Bescheid, seitdem sie die Krankenakten angefordert habe. Die sich selbst als Frau fühlende Christiane Völling warf der Chirurgin vor, sie „zwangsvermännlicht“ zu haben.
Insofern ist der Prozess sehr speziell gelagert, da der nun den Gerichtsprozess bedingende Eingriff im Alter von 17 Jahren durchgeführt wurde, und damit in einem zustimmungsfähigen Alter stattgefunden hat. Inwieweit operative und hormonelle medizinische Eingriffe direkt nach der Geburt ebenfalls gerichtliche Schadenersatzforderungen nach sich ziehen können, ist derzeit nicht absehbar. Es scheinen zwar immer weniger entsprechende Behandlungen durchgeführt zu werden (vgl. Bundestags-Drucksache 16/4786, 2007: S.4), was auch auf die Verunsicherung von Medizin durch gerichtliche Entscheidungen zu Gunsten der Selbstbestimmung von Patientinnen zurückzuführen sein wird, allerdings ist ein grundsätzliches Abrücken von medizinischen geschlechtszuweisenden Eingriffen in der Medizin noch nicht zu ersehen. So wurde bei der Chicago Konsensus Konferenz im Jahr 2005 (mit Beteiligung auch von Medizinerinnen aus der BRD) die Notwendigkeit frühzeitiger Behandlung für zahlreiche Diagnosen uneindeutigen Geschlechts weiter fortgeschrieben, und lediglich ein „informed consent“ (eine informierte Zustimmung) eingefordert.
„Informierte Zustimmung“ der Patientin bzw. der Eltern klingt zunächst gut, allerdings wird schon bei der Begrifflichkeit deutlich, dass eine Entscheidung nur in einer Richtung nahegelegt wird. Eine „informierte Ablehnung“ der Behandlung wird nicht thematisiert. Zudem ist fraglich, ob von einer informierten Zustimmung überhaupt die Rede sein kann: während die Medizinerin in der Regel Jahre Zeit hatte, sich mit der Thematik uneindeutigen Geschlechts zu beschäftigen, wird von den Eltern in wenigen Tagen, Wochen oder wenigen Monaten eine Entscheidung erwartet. Eine informierte Zustimmung wird in kurzer Frist erzwungen. Zudem ist sie abhängig von der Beratung der Medizinerin, von den zur Verfügung stehenden und vorgeschlagenen Behandlungs-Techniken, und erfolgt nicht zuletzt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und medizinischer Problematisierung uneindeutiger Genitalien. Eine Entscheidung der Eltern (aber auch einer Patientin) kann vor diesem Hintergrund kaum „selbstbestimmt“ genannt werden, da „eine eigensinnige Wahrnehmung, ein unabhängiges Urteil und selbständiges Handeln unmöglich“ gemacht wird (Samerski 2003: S.217). In jedem Fall ist es fraglich, ob sich Eltern vor dem Hintergrund einer solchen gesellschaftlichen Zwangssituation, die von jedem Menschen eine Einordnung als weiblich oder männlich fordert, in ihrer Entscheidung tatsächlich an dem Wohl des Kindes orientieren – wie es rechtlich gefordert wird –, oder sich nach ihrem eigenen Interesse richten, ein nicht auffälliges, geschlechtlich eindeutiges Kind vorweisen zu können.
Insofern gilt es den gesellschaftlichen Konsens hin zu Offenheit gegenüber vielfältigen Geschlechtern zu ändern. Interessant ist hierfür eine Passage aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Situation Intersexueller in Deutschland“ der Bundestagsfraktion DIE LINKE: „Die Bundesregierung weist zudem darauf hin, dass auch im rechtlichen Rahmen die Existenz intersexueller Menschen vorgesehen ist. So gilt der Diskriminierungsschutz des am 18. August 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auch für zwischengeschlechtliche Menschen.“ (Bundestags-Drucksache 16/4786, 2007: S.3) Hieran wird gesellschaftlich anzuknüpfen sein und werden die rechtlichen Regelungen, die medizinische Maßnahmen früher Geschlechtszuweisung ohnehin stark beschränken sollten (GG §2 [körperliche Unversehrtheit], BGB §1631c, §1904-1906 [enge Grenzen zur Einwilligung in Sterilisation] und StGB §90 Abs. 3 [Nicht-Einwilligungsfähigkeit in die Verletzung der Genitalien]), neu zu interpretieren sein, so dass Menschen in einem zustimmungsfähigen Alter, und nur falls sie selbst es wollen, operative und hormonelle Maßnahmen selbst einleiten können.
heinzi, loxxel@web.de
* Zur übergreifenden Verwendung weiblicher Bezeichnungen für Menschen aller Geschlechter vgl. Pusch, L. (1984): Das Deutsche als Männersprache. Suhrkamp, Frankfurt/Main.
Zitate aus:
Deutscher Bundestag (2007): Drucksache 16/4786. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Karin Binder, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 16/4287: Situation Intersexueller in Deutschland.
Samerski, S. (2003): Entmündigende Selbstbestimmung. Wie die genetische Beratung schwangere Frauen zu einer unmöglichen Entscheidung befähigt. In: Graumann, S., Schneider, I. (Hrsg.): Verkörperte Technike – Entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht. Campus, Frankfurt/Main, S.213-229.
Siehe auch die Rezension zu Christiane Völlings Buch: „Ich war Mann und Frau – Mein Leben als Intersexuelle“
Autobiographie von Christiane Völling.
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