Von Heinz-Jürgen Voß; der Beitrag wurde zuerst beim Oldenburger Magazin für Lesben und Schwule „Rosige Zeiten“ (Nr. 142) und bei Rezensionsportal Kritisch-lesen (Ausgabe Nr. 22) veröffentlicht.
Der Situation von Schwulen in der Nazi-Zeit wendet sich die aus dem Französischen übertragene Graphic Novel „Rosa Winkel“ zu. Berichtet wird die Geschichte des Werbezeichners Andreas Müller, der in den 1930er Jahren Anfang 20 ist und schwul. Er kommt in den Blick der Nazi-Justiz, schließlich ins Gefängnis und – nach einer vorübergehenden Entlassung – ins Konzentrationslager. Als einer der wenigen Überlebenden der Konzentrationslager Sachsenhausen und Neuengamme erhält er in der frühen BRD keine Entschädigung. Wegen der Verurteilung nach Paragraph 175 gilt er als Krimineller und ist bedroht, erneut verurteilt zu werden. Und selbst in den 1980er Jahren, nun lebt Andreas Müller in Frankreich, muss er Vorurteile der nicht-homosexuellen Menschen weiterhin ertragen. Seine Mutter hält hingegen zeitlebens zu ihm.
Durch die individuellen Beschreibungen ermöglichen es die Verfasser Michel Dufranne, Milorad Vicanović und Christian Lerolle dem Lesenden mit dem Protagonisten mitzufühlen. Empathie wird gestärkt und so leistet diese Graphic Novel Erinnerungsarbeit, die gerade vor dem Hintergrund der immer weniger noch lebenden Zeitzeug_innen wichtig ist.
Die allgemeine Einbindung der Arbeit erweist sich hingegen als problematisch, weil sie ein vermeintlich uniformes Bild der männlichen Homosexuellen in der NS-Zeit liefert. Die Graphic Novel erzähle „vom lange tabuisierten Schicksal der Homosexuellen zur Nazizeit“ – so heißt es im Klappentext –, verweist auf ein allgemeines Schicksal, was Schwule in der NS-Zeit ereilt habe. Diese Sichtweise wird mittlerweile von Wissenschaftler_innen differenziert. Wurde eine Weile, auch als Reaktion auf die Verfolgung der Homosexuellen in der BRD, eine schwule Erinnerungskultur etabliert, die homosexuelle Männer als Gruppe konstituierte, die wie die Jüd_innen verfolgt worden sei, so muss diese Sichtweise heute revidiert werden. Im von Burkhard Jellonnek und Rüdiger Lautmann herausgegebenem wissenschaftlichen Sammelband „Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle“ (2002) hält etwa John C. Fout fest: Im „Vergleich zum jüdischen Holocaust [hat es] trotz der Verfolgung, trotz der Konzentrationslager, trotz der Ermordung von Schwulen in der NS-Zeit nie eine totale Ausmerzung der Homosexualität und keine systematische Verfolgung der Schwulen gegeben“ (Fout 2002, S. 169). Auch James D. Steakley schließt sich hier – mit Bezug zu den renommierten Homosexuellen-Forschern Günter Grau und Rüdiger Lautmann – an. Er schreibt mit Verweis auf diese Wissenschaftler im selben Band:
„‚Die Gruppen, welche die Nazis als Staatsfeinde, aber nicht als rassisch minderwertig betrachteten, wurden nicht restlos zusammengetrieben, sondern nur selektiv gefangengenommen.‘ Dies unterscheide sich grundsätzlich von der NS-Judenverfolgung, die bis auf den letzten Mann, die letzte Frau, das letzte Kind durchgeführt werden sollte.“ (Steakley 2002, S. 66) Weiterlesen