Vorhautbeschneidung bei Jungen: Weg von Vorannahmen, hin zu fundierter Diskussion.

(von Heinz-Jürgen Voß; als pdf-Datei)

Ich habe in den vergangenen Wochen intensiv die Debatten um die Vorhautbeschneidung bei Jungen verfolgt. Ich hätte mir gewünscht, dass ein ähnlich intensives Streiten bzgl. der medizinischen Gewalt gegen Intersexe stattgefunden hätte. Im Gegensatz zur Vorhautbeschneidung bei Jungen kämpfen hier seit Jahrzehnten Menschen gegen die als grauenvoll empfundenen Behandlungen und ihre Folgen.

Bzgl. der Vorhautbeschneidungen bei Jungen gibt es im deutschsprachigen Raum dieses Streiten von selbst betroffenen Menschen hingegen nicht. Aber statt das als Hinweis zu nehmen, dass hier kein solches Streiten erforderlich ist oder dass es etwa nicht so dringlich ist, wurde argumentiert, ‚die beschnittenen Männer wüssten ja nicht, was ihnen bzgl. Sensitivität entgehe‘. Das eigene Empfinden und die eigene Vorannahme wurde auf andere Menschen übertragen – ein Vorgehen, dass nicht zuletzt durch Sexualwissenschaft, Gender und Queer studies und Intersektionalitätsforschung als inakzeptabel erwiesen ist.

Die Debatte ist aufgeladen, gerade weil vom Kölner Landgericht ein Urteil gefällt wurde, was gut in den strukturellen Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland passt. Aber das sollte nicht zu voreiligen Kurzschlüssen verleiten, sondern gerade als Forderung an Wissenschaftler_innen und gut informierte Interessierte verstanden werden, genau nachzuschauen, nachzufragen und zu analysieren.

Zur Kenntnis zu nehmen ist dabei:

1)   In der gesamten aktuellen Debatte um die Vorhautbeschneidungen hat sich keine einzige Vereinigung betroffener Menschen aus dem deutschsprachigen Raum zu Wort gemeldet. Hingegen haben sich einige selbst Beschnittene zu Wort gemeldet, die sich explizit für die Möglichkeit der Vorhautbeschneidung stark machen. Das waren neben dem Zentralrat der Juden, dem Zentralrat der Muslime etwa auch eine Gruppe Kreuzberger jüdischer und muslimischer Jugendlicher, die die folgende Petition initiierten: http://www.change.org/petitions/wir-gegen-rechtsbeschneidung .

2)   Vom Kölner Landgericht wurde explizit nicht die „medizinisch indizierte“ Vorhautbeschneidung kritisiert. Das ist interessant, weil, wenn man die Vorhautbeschneidung als äußersten Gewaltakt mit gravierenden Folgen einstufte, gerade gegen diese „medizinische Indikation“ angegangen werden müsste. Aber auch hier lohnt ein genauerer Blick: Mit „medizinischer Indikation“ könnte die Vorhautbeschneidung bei allen Jungen gerechtfertigt werden – auf Grund von „Phimose“ (oder auch hygienisch – dazu später). Das ist der Fall, weil bis zu einem bestimmten Alter kaum ein Junge die Vorhaut vollständig hinter die Eichel des Penis zurückziehen kann, also „Phimose“ vorliegt. Bei Geburt haben beinahe keine Jungen eine zurückziehbare Vorhaut, bei 7 Jahren sind es erst ca. 20 bis 25 Prozent. Im Alter von 13 Jahren können 60 Prozent die Vorhaut hinter die Eichel zurückziehen, mit 17 Jahren 95 Prozent. (etwa: Øster 1968; Kayaba et al. 1996)

3)   Ergeben sich mit der Vorhautbeschneidung Beeinträchtigung, Erhöhung oder keine messbaren Änderungen der Sensitivität und Erregungsfähigkeit? Hierbei handelt es sich um eines der zentralen Argumente in den Debatten der vergangenen Monate. Es wurde gemutmaßt, dass sich die Erregungsfähigkeit vermindere, teilweise wurden hierfür einzelne Studien angeführt. Hingegen wurden die anderen Studien, die bei einem kurzen Überblick zahlreich sind, keineswegs herangezogen. So wird etwa in der medizinischen Forschung darüber diskutiert, ob Vorhautbeschneidung mit einem frühen bzw. vorzeitigen Samenerguss – also wenn man so will mit „besonderer Erregungsfähigkeit“ – in Zusammenhang stehen könnte (etwa Malkoc et al. 2012); andere Studien konnten keinen Unterschied in der Sensitivität und Erregungsfähigkeit beschnittener und unbeschnittener Jungen und Männer finden (etwa Payne 2007). Die Ergebnisse sind also keineswegs klar – auf jeden Fall verbietet es sich, die eigene Vorannahme zu übertragen, sondern auch hier lohnt sich genaues wissenschaftliches Arbeiten.

4)   In einigen Artikeln wurde gar argumentiert, dass auf Grund der geringeren Erregungsfähigkeit eine größere Reibungsanstrengung („Rein-raus“, „Rubbeln“) notwendig sei, um zum Orgasmus zu gelangen. Daran wird angeschlossen, dass damit ein höheres Infektionsrisiko für Geschlechtskrankheiten bei beschnittenen Penissen gegeben sei. Abgesehen von der eingeschränkten Sicht auf den sexuellen Akt, der sich offensichtlich auf die Penetration irgendwelcher Öffnungen beschränke, zeigt der Blick in die Literatur das ganze Gegenteil. Vorhautbeschneidung wird gerade aus „hygienischen Gründen“ befürwortet. Es wird davon ausgegangen, dass das Infektionsrisiko mit HIV und anderer Geschlechtskrankheiten bei vorhautbeschnittenen Männern gegenüber unbeschnittenen Männern deutlich geringer sei (etwa Siegfried et al. 2009; Sansom et al. 2010; Kacker et al. 2012). Es wird gar gemutmaßt, dass Schmerzen im Kindesalter, die mit Infektionen des Harntraktes verbunden sind, durch Vorhautbeschneidung reduziert werden könnte – Kacker et al. (2012) berichten von einer um über 200 Prozent verringerten entsprechenden Infektionshäufigkeit.

Diese vier Punkte sprechen insbesondere gegen die Laxheit, mit der aktuell die Debatte geführt wird. Gerade wenn eine Debatte so aufgeladen ist, wie die jetzige, ist es wichtig, dass Wissenschaftler_innen und gut informierte Interessierte noch genauer hinsehen und die gemachten und auch die eigenen Vorannahmen hinterfragen. Dazu möchte ich anregen. Dazu gehört es auch, auf die Darstellungen der betroffenen Menschen einzugehen. Gleichzeitig empfiehlt sich ein differenzierter und interdisziplinärer Blick auf die medizinischen Forschungsergebnisse, die etwa in der medizinischen Datenbank PubMed ( http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed ) zu Circumcision (Vorhautbeschneidung) zugänglich sind.

Auch erschienen:
Buch „Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte““

Zum Buch erschienene Rezensionen.

 

Literatur

Kacker S, Frick KD, Gaydos CA, Tobian AA.: Costs and Effectiveness of Neonatal Male Circumcision. Arch Pediatr Adolesc Med. 2012: 1-9. [Epub ahead of print]

Kayaba H, Tamura H, Kitajima S, et al. Analysis of shape and retractability of the prepuce in 603 Japanese boys. J Urol 1996; 156 (5): 1813-5.

Øster J. Further Fate of the Foreskin: Incidence of Preputial Adhesions, Phimosis, and Smegma among Danish Schoolboys. Arch Dis Child 1968: 200-202.

Malkoc E, Ates F, Tekeli H, Kurt B, Turker T, Basal S.: Free Nerve Ending Density on the Skin Extracted by Circumcision and It’s Relation with Premature Ejaculation. J Androl. 2012 May 17. [Epub ahead of print]

Payne K, Thaler L, Kukkonen T, Carrier S, Binik Y.: Sensation and sexual arousal in circumcised and uncircumcised men. J Sex Med. 2007, 4 (3): 667-74.

Sansom SL, Prabhu VS, Hutchinson AB, An Q, Hall HI, Shrestha RK, Lasry A, Taylor AW.: Cost-effectiveness of newborn circumcision in reducing lifetime HIV risk among U.S. males. PLoS One. 2010, 5 (1): e8723.

Siegfried N, Muller M, Deeks JJ, Volmink J.: Male circumcision for prevention of heterosexual acquisition of HIV in men. Cochrane Database Syst Rev. 2009, 15 (2): CD003362.

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