Verqueerte Verhältnisse

rezensiert von Salih Alexander Wolter (vorab aus: „Rosige Zeiten“, 125)

Verqueerte Verhältnisse betitelt die AG Queer Studies der Hamburger Universität den vor kurzem erschienenen zweiten Sammelband zu ihrer Vorlesungsreihe „Jenseits der Geschlechtergrenzen“. Dieses queer-feministische wissenschaftliche Angebot, hervorgegangen aus einem 1990 mit schwulem Schwerpunkt begründeten Projekt, ist umso bemerkenswerter, als in der Bundesrepublik insgesamt – sehr zurückhaltend formuliert – „Rückschritte bezüglich der Anerkennung und Einschreibung von geschlechter- und sexualitätenpolitischen Themen in das akademische Feld zu beobachten sind“ (S. 31f). Offenbar soll bald kein informierter Einspruch mehr das Publikum gelegentlich irritieren – und schon gar nicht soll die lästige Machtfrage gestellt werden -, wenn beispielsweise „rassistische Feminismen“ à la „Alice Schwarzer und der Kreis um die Zeitschrift EMMA“ (S. 11) ihr borniertes „Wissen“ über Migrant_innen auf sämtlichen verfügbaren Kanälen verbreiten. Das wäre dann, im Wortsinn, dumm gelaufen – wie so vieles, seit man sich an hiesigen Hochschulen dem verschreibt, was Wirtschaft und herrschende Politik für „Exzellenz“ halten. Dabei ließe sich im heute angesagten Sprech doch auch bedauern, dass „Deutschland“ darauf verzichtet, sich um internationale Wettbewerbsfähigkeit auf einem zukunftsweisenden Gebiet der Sozialwissenschaften zu bemühen.
Dem Tunnelblick des heimischen Mainstream setzt der aktuelle Band, acht Jahre nach dem viel beachteten Erstling, Elemente eines pluralen widerständigen Denkens entgegen, das noch da, wo es mir dem hegemonialen Diskurs auf den Leim zu gehen scheint, zumindest wichtige Fragen aufwirft. Der Titel nimmt einerseits Bezug auf die wachsende Komplexität von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die dringend erfordert, „Sexualität und Geschlecht … in ihrer Verwobenheit mit anderen gesellschaftlichen Normsystemen wie `Rasse´, Ethnizität, Klasse, Behinderung oder Alter und vor dem Hintergrund der derzeitigen kapitalistischen/neoliberalen Vergesellschaftung“ zu analysieren (S. 17). Entsprechend öffnen sich auch hierzulande Wissenschaftler_innen „intersektionalen“ Ansätzen und suchen erfreulicherweise vor allem Anschluss an die im angelsächsischen Raum florierenden Postcolonial Studies – die wiederum in der Bundesrepublik, abgesehen von María do Mar Castro Varelas Professur an der Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule, „bisher kaum eine Institutionalisierung an den Universitäten erfahren“ (S. 20). Allgemein wird angesichts der „sich vertiefenden Spaltung der Gesellschaft, zunehmender ökonomischer Ungleichheit und der Entstehung eines neuen Prekariats … das Begehren nach Kapitalismuskritik innerhalb der Queer Studies intensiver“ (S. 24f). So klingt andererseits im Wort von den „verqueerten Verhältnissen“ Utopie mit an. Es verweist auch auf das, was die Herausgeber_innen intendieren mögen, wenn Queer für sie „insbesondere eine kritische Forschungsperspektive bedeutet“ (S. 9): Jacques Derrida hat es einmal – nicht von ungefähr mit Blick auf Karl Marx – eine „performative Interpretation“ genannt, „das heißt eine Interpretation, die das, was sie interpretiert, zugleich verändert“.
Von hier aus wird verständlich, dass die AG im Lauf der Arbeit an dem Band – der sehr ausführlichen und streckenweise etwas selbstquälerisch anmutenden Einleitung zufolge – immer wieder auf das Problem zurückkam, wie sich die Beziehung von Theorie und Praxis „queer denken“ lässt. Sind „unsere Ringvorlesung und dieses Buch auch eine politische Intervention in die heteronormative Ordnung von Universität und Wissenschaft, oder vereinnahmen wir damit politische Kämpfe durch die zugangsbeschränkte akademische Theorieproduktion?“ (S. 12). Den meisten Beiträgen gelingt es aber gut, die gesellschaftskritische Relevanz von Theoremen aufzuzeigen, die auf Anhieb eher gesucht schwierig wirken könnten – haben Schlagworte wie „brüchige Identität“ oder „nomadische Subjektivität“ doch oft den leicht faden Beigeschmack von Befindlichkeitsstörungen höherer Töchter und Söhne. Aber im Gegensatz dazu wird hier – etwa, wenn sich eine Autorin auf das Netzwerk Kanak Attak und die AG 1-o-1 (one ´o one) intersex einlässt – deutlich, dass gerade solche Begrifflichkeit eine die Individuen prägende soziale Realität, für die rassistische Diskriminierung und Zwangs-Zweigeschlechtlichkeit ebenso bestimmend sind wie die Klassenverhältnisse, beschreiben kann, ohne dabei eine Ebene auf die andere zu reduzieren. Und umgekehrt bedienen sich die zitierten Aktivist_innen ihrerseits gern aus dem poststrukturalistischen Werkzeugkasten, wenn sich dort etwas für ihre „agency“ – oder Handlungsfähigkeit – Brauchbares findet (s. den Text von Do. Gerbig, S. 151-164).
Wirklich verqueert wird das Theorie-Praxis-Verhältnis – und der Buchtitel vielleicht erst damit in seiner vollen Bedeutung erfasst – bei Jin Haritaworn. Hier bilden beide, vereint wie die gleichzeitig angeschlagenen Töne eines Akkords, ein Ineinander, statt nebeneinander herzulaufen. In diesem Sinn bezeugt seine Intervention Kiss-ins und Dragqueens. Sexuelle Spektakel von Kiez und Nation (S. 41-65) die Möglichkeit von „performativer Interpretation“ auch gegen die offensichtlichen Aporien von Judith „Butlers Begriff der Performativität als Zitatförmigkeit“ (S. 152). Jin ist, als queerer Aktivist in verschiedenen Ländern unterwegs, durchaus praktisch orientiert und aufmerksam für jedes lokale Detail – so habe ich ihn, passend zum Thema seines Textes, in diesem Sommer als Mitstreiter in Berlin erlebt, als GLADT gegen die Gewalt an migrantischen Trans*-Sexarbeiterinnen in Schöneberg mobilisierte (die äußerst brutalen Vorfälle hatten – und das passt leider ebenfalls – in der Community viel weniger Empörung ausgelöst als der Rausschmiss eines knutschenden Lesbenpaares aus einer Eisdiele ein paar Straßenecken weiter). Aber zugleich gehört Haritaworn, neben Jasbir K. Puar, zu den international meist diskutierten Queer-Theoretiker_innen: In Großbritannien gibt es gegenwärtig eine heftige öffentliche Kontroverse um seine Kritik am  „gay imperialism“ – dem Beitrag des schwulen weißen Establishments zum ansteigenden Rassismus in den westlichen Staaten und zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Kriege gegen die sogenannte „islamische Welt“ (s.   http://www.xtalkproject.net/?p=415 ). An eine frühere Studie von Jennifer Petzen – u. a. zur Rolle des LSVD im Islamophobie-Business – anknüpfend, sensibilisiert das vorliegende Stück – das sich übrigens überhaupt nicht verkopft liest – für den auch in manchen intersektionalen Überlegungen festzustellenden „`implizit vergegenständlichenden Effekt der Anrufung durch Kategorien´“ (S. 16).
Letzterem wird es geschuldet sein, dass sich die Kultur, die dem Kapitalismus „Stütze und Widerspruch“ in einem bietet, wie Fernand Braudel einmal bemerkte, nach Protestbekundungen „doch fast immer erneut schützend vor die herrschende Ordnung“ stellt, „ein Vorgang, aus dem der Kapitalismus einen Teil seiner Sicherheit zieht“. Fragwürdig erscheint mir aber der Versuch, nun die Ökonomie durch „kulturwissenschaftliche Analysen“ zu begreifen, wie es Antke Engel – quasi in Umkehrung der zurückgewiesenen ökonomistischen Verkürzung eines vergangenen Traditionsmarxismus (vgl. S. 24) – vorschlägt, und hier, in Anlehnung an Thesen von Butler, vorzugsweise „ein Interventionsfeld kultureller Politiken“ zu sehen (S. 106). Mir jedenfalls wollen „Umarbeitungen neoliberaler Macht- und Herrschaftseffekte“, wie sie beispielsweise „im SM-Rollenspiel … erfolgen“ können (S. 105), keineswegs genügen. Darum möchte ich zum Abschluss daran erinnern, dass für Derrida die „Dekonstruktion … immer nur Sinn und Interesse gehabt“ hat „als eine Radikalisierung des Marxismus“.
Bleibt noch nachzutragen, dass eine in der Einleitung beklagte „Leerstelle“ demnächst geschlossen wird: Heinz-Jürgen Voß, den Leser_innen dieser Zeitschrift wohlbekannt, leistet mit seinem Buch Making Sex Revisited, das Anfang 2010 bei Transcript veröffentlicht wird, die ausstehende „Zusammenführung queer-theoretischer Ansätze mit naturwissenschaftskritischen Zugängen“ (S. 30).

Salih Alexander Wolter

AG Queer Studies (Hrsg.), Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen, Hamburg 2009: Männerschwarm Verlag, 223 Seiten, broschiert, 16 Euro.

Weitere Rezensionen des Buches:
http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/771/785

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„Ein Faktum, das dem Menschsein als solchem entspringt“ – Georg Klaudas notwendige Kritik des schwulen Islam-Diskurses.

3 Kommentare

  1. […] im Online-Archiv der Rosigen Zeiten hier. Der Artikel ist auch auf http://www.schwule-seite.de veröffentlicht […]

  2. […] der Rosigen Zeiten 125 hier. Der Artikel wurde auch auf http://www.schwule-seite.de veröffentlicht (Direktlink zum […]

  3. […] •Salih Alexander Wolter: Verqueerte Verhältnisse (Direktlink zum Text), gedruckt veröffentlicht in Rosige Zeiten, Ausgabe Dezember 2009/Januar 2010 (PDF), im Internet auch unter http://www.schwule-seite.de. […]

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