Tag Archiv für rassismus

1 Jahr Verschärfung der „Zwangsehe“ für binationale Paare in der Bundesrepublik Deutschland

Da vor einem Jahr die Regelungen für (hetero- und homosexuelle) binationale Paare erheblich verschärft wurden, soll an dieser Stelle direkt darauf hingewiesen werden – mit Hinweis auf einen vor einem Jahr an dieser Stelle veröffentlichten Beitrag:

„Mit Wirkung zum 1. Juli 2011 wurde der § 31 AufenthG (Eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten) geändert und die Hürden hier weiter ausgebaut. Perfider Weise unter dem Titel „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat…“ wurde die nötige Sperrfrist von zwei auf drei Jahre erhöht und wird dann zunächst nur ein eigenständiger Aufenthalt über ein Jahr erteilt. So werden selbst Menschen die in einer Ehe oder einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft Gewalt erleiden, durch die deutsche Regierung dazu gezwungen, länger in einer solchen Zwangsbeziehung zu leben. Entgegen dem Gesetzestitel fördert die Bundesregierung so Zwangsehen und Zwangsverhältnisse.“

Hier geht es zum vollständigen Beitrag vom 1. Juli 2011.

No border, no nation, stop deportation!

Heute demonstrierten in Hannover mehrere hundert Menschen gegen die menschenunwürdige Asyl- und Abschiebepraxis in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere in Niedersachsen. Anders als in anderen Bundesländern erhalten Asylsuchende in Niedersachsen beispielsweise noch immer Gutscheine für Lebensmittel, statt Bargeld. Nicht davon abgedeckt werden können u.a.Fahrkarten für Busse und Bahnen. Damit sind beispielsweise zahlreiche Bildungsangebote nicht zu erreichen, der Aufbau von Freundschaften und Bekanntschaften wird erschwert. Ausgezahlt werden lediglich 40 EUR im Monat an Erwachsene, 20 EUR an Kinder und Jugendliche. Allein Sprachkurse kosten – selbst wenn sie sich explizit an Asylsuchende richten – ein Vielfaches davon.

Die Situation von Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland und mit besonderer Intensität in Niedersachsen ist unmenschlich. Sie schließt sich an in den meisten Fällen äußerst traumatisierende Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht an. Etwa 40 Prozent der Flüchtlinge sind so schwer traumatisiert, dass sie dringend psychologische Hilfe benötigen. Doch auch diese wird kaum gewährt – oder kann eben auf Grund mangelnder finanzieller Mittel für die Fahrkarten nicht in Anspruch genommen werden. Oft fehlen zudem psychologische Angebote in der Erstsprache und Dolmetschdienste – und dabei sind gerade für die Aufarbeitung von Traumatisierungen erstsprachliche Angebote (oder zumindest geschulte Dolmetsch-Dienste) erforderlich. Die Residenzpflicht verhindert, dass Psycholog_innen in anderen Orten aufgesucht werden können. Und sie verhindert unter anderem auch, dass Familien miteinander in Kontakt stehen – denn die deutsche Asylpraxis verbringt Menschen aus der gleichen Familie oft in unterschiedliche Bundesländer und Städte, zudem meist in äußerst schreckliche Heime am Stadtrand oder im Wald (vgl. etwa Tobias Pieper „Die Gegenwart der Lager“).

Durch die unmenschliche Unterbringungspraxis werden die traumatisierenden Erlebnisse aus dem Herkunftsland und der Flucht noch verstärkt. Es wird stets vermittelt, dass Menschen nicht willkommen sind, Familien werden auseinander gerissen, eine ausreichende (und individuell abgestimmte, zum Beispiel auf Alergien reagierende) Ernährung verhindert. Hinzu kommt der tagtäglich erlebte direkte Rassismus im Umgang mit einigen Mitarbeiter_innen von Behörden und in der Gesellschaft.

Gegen diese unmenschliche Politik gibt es Proteste – auch in deiner Stadt!

Bleiberecht für alle – jetzt, sofort!

Mehr Informationen gibt es beim FLÜCHTLINGSRAT NIEDERSACHSEN – und hier zwei sehr gute Musikvideos, die die Situation ebenfalls wesentlich besser deutlich machen als dieser kurze Text – von MC NURI

 

 

Vom Gay Pride zum White Pride – Koray Yilmaz-Günay (Hrsg.): „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre „Muslime versus Schwule“: Sexualpolitiken seit dem 11. September“

(Rezensiert von Heinz-Jürgen Voß; die Rezension ist zuerst erschienen auf www.kritisch-lesen.de – herzlichen Dank an die Redaktion für das Einverständnis zur Zweitveröffentlichung!)

 

Wie in einem Brennglas erscheinen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 die seit dem Kolonialismus etablierten westlichen Imaginationen über „den Islam“ – Geschlecht und Sexualität waren und sind in diesen zentral. Und es blieb nicht bei Vorstellungen, sondern es wurden in westlichen Staaten demokratische Grundrechte abgebaut und Kriege begonnen – in weiten Teilen begründet mit Argumentationen über Geschlecht und Sexualität.

Die Anschläge des 11. September 2001 („9/11“) auf das World Trade Center und das Pentagon, bei denen mehr als 3000 Menschen starben, haben in der Weltgeschichte der letzten zehn Jahre deutliche Spuren hinterlassen. Demokratische Staaten haben nicht etwa mit den Möglichkeiten ihrer Gesetze reagiert und die Verbrechen nach dem Strafgesetzbuch geahndet. Stattdessen fanden Kriege statt, wurden militärische Drohungen ausgestoßen und im Inneren grundlegende demokratische Rechte für obsolet erklärt bzw. gleich ganz aufgehoben. Begleitet war diese Entwicklung von einer intensiven Diskursivierung des Islam, nicht etwa nur jener Verbrecher, die diese Anschläge verübten. Der Islam erschien nun vielen als bedrohlich. Die emotionale Erregung, die viele Menschen mit den Anschlägen erfasste, kanalisierte sich – westlich – hin zu einer Ablehnung des Islam an sich und zu Vorbehalten selbst gegenüber ganz konkreten Menschen, die als Musliminnen und Muslime erschienen. Weiterlesen

10 Jahre Eingetragene Lebenspartnerschaft – und kein Ende in Sicht Verschlechterung der Bedingungen für binationale Partnerschaften

Ein Beitrag von Heinz-Jürgen Voß.

Am 1. August 2001 trat das Gesetz zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft in Kraft, dass für Lesben und Schwule in Paargemeinschaft die Möglichkeit eröffnete, ihren Status gegeneinander auch rechtlich abzusichern. Geklärt sind damit insbesondere Fragen, die das Krankenhausbesuchsrecht, das Zeugnisverweigerungsrecht und den Todesfall betreffen. Hier können garstige Verwandte, die die gleichgeschlechtliche Beziehung nicht schätzten und ggf. torpedierten, nicht mehr den Besuch der Partner_in im Krankenhaus verhindern oder gar, nach einem Todesfall, der Partner_in die Wohnung oder das Häuschen entziehen. Auch für binationale Partnerschaften haben sich mit der Eingetragenen Lebenspartnerschaft Möglichkeiten eröffnet: So kann nun eine Partner_in, die keine Staatsbürgerschaft der BRD oder eines EU-Landes hat, auf Grund der Eingetragenen Lebenspartnerschaft in der BRD ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten, dass nach mehreren Jahren auch eigenständig werden kann. Verbunden ist die binationale Regelung allerdings auch mit Missbrauchsfällen, wie sie aus Ehen hinlänglich bekannt sind, dass sich eine Partner_in mit Staatsangehörigkeit BRD einen Menschen „hält“, der billig und entrechtet den Haushalt besorgt, sexuell zu Diensten ist und ggf. sogar misshandelt wird. Der Partner bzw. die Partnerin ohne eigenständiges Aufenthaltsrecht wird so in die Position einer starken Abhängigkeit gebracht, die noch dadurch erschwert wird, dass nach einer Scheidung das Aufenthaltsrecht wegfällt, wenn nicht eine Sperrfrist vorbei ist. Wer möglicherweise in dem Herkunftsland mit einer Strafe bedroht ist, allein weil er oder sie eine gleichgeschlechtliche Verbindung einging, oder wer unabhängig davon seine Lebensperspektive in der BRD sieht, hat so keine Möglichkeit – bzw. kaum eine, es gibt wenige Hilfsangebote und Ausnahmeregelungen – einer/einem unterdrückenden oder gar gewalttätigen Partner/in zu entkommen. Mit Wirkung zum 1. Juli 2011 wurde der § 31 AufenthG (Eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten) geändert und die Hürden hier weiter ausgebaut. Perfider Weise unter dem Titel „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat…“ wurde die nötige Sperrfrist von zwei auf drei Jahre erhöht und wird dann zunächst nur ein eigenständiger Aufenthalt über ein Jahr erteilt. So werden selbst Menschen die in einer Ehe oder einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft Gewalt erleiden, durch die deutsche Regierung dazu gezwungen, länger in einer solchen Zwangsbeziehung zu leben. Entgegen dem Gesetzestitel fördert die Bundesregierung so Zwangsehen und Zwangsverhältnisse. Weiterlesen

„Pardon, wir hätten da mal was zu sagen!“ Sineb El Masrar: Muslim Girls – Wer wir sind, wie wir leben.

(von Heinz-Jürgen Voß; zuerst veröffentlicht in „Rosige Zeiten“ (Nr. 134), Nachdruck bei kritisch-lesen.de (Nr.7))

Sineb el Masrar - Muslim Girls„Das Bekenntnis: ‚Ich heiße Fatma, bin Muslima und das ist auch gut so‘, klingt in den Ohren mancher eher wie ein bemitleidenswertes Statement denn wie ein hippes Großstadtpostulat, mit dem frau zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin aufsteigen kann. In der Regel wird nicht mit uns geredet, sondern gerne über uns. Wenn uns dann jemand nicht wieder in Frage, sondern eine Frage stellt, dann sind das Fragen meist dieser Art: Kannst du auch Islamisch sprechen? Würdest du deine Tochter auch beschneiden? Darfst du hier im Schwimmbad überhaupt schwimmen? Bist du schon jemandem versprochen? Wurde dein Mann von deiner Familie ausgesucht? Haben deine Eltern kein Problem damit, dass du hier im Ausland arbeitest? Oder ganz kreativ: Gehst du auch mit Kopftuch unter die Dusche? Ja, so macht es Spaß, in Deutschland zu leben. Wer braucht schon einen Glückskeks mit Sprüchen, wenn man stattdessen fortwährend Überraschungsfragen gestellt bekommt, die uns eigentlich auch schon nicht mehr überraschen können.“ (S.16)

Die vielfältigen und individuellen Lebensgeschichten der „Muslim Girls“
Sineb El Masrar fängt ganz vorne an, da wo bei vielen gleich die „Vorurteilshamster in den Köpfen auf Hochtouren“ laufen. Denn da wo „wir“ mittlerweile bei queer ankommen und Lesben und Schwule gern auf ihre Vielfalt und ihre ganz individuelle Einzigartigkeit verweisen, sind Menschen mit dunklen Haaren oft nur eines: Muslime. Muslimische Frauen werden bemitleidet, ihre Emanzipation wird selbst zentrales Interesse der bayrischen Hausfrau, die in absoluter ökonomischer Abhängigkeit ihres Ehemannes steht. El Masrar verlangt nur eines: Zuhören. Und da das bislang kaum jemand möchte, macht sie mit diesem Buch einen Anfang – und erzählt erst einmal. Sie beschreibt wer denn eigentlich diese Muslim Girls sind, wer ihre Eltern, wer ihre Brüder sind. Und es wird gleich eines offensichtlich, es sind vielfältige, ganz individuelle Lebensgeschichten, die erst erfahrbar werden, wenn man miteinander spricht. Geboren in Hannover, aufgewachsen in der niedersächsischen Provinz, mit Ausbildungen zur Erzieherin und Kauffrau, tätig in Grundschulen, in der Filmbranche und in einem von ihr gegründeten multikulturellen Frauenmagazin, Teilnehmerin der Deutschen Islam Konferenz legt El Masrar dieses kenntnisreiche und amüsant geschriebene Buch vor. Weiterlesen

Grundschulbildung auch für Hans-Peter Friedrich und Horst Seehofer! Denn europäische AufklärerInnen bezogen sich ausdrücklich auf den Islam

Nachdem die Äußerungen von Friedrich, der sich in seiner Antrittsrede zum Bundesinnenminister mit Ausführungen dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre gegen den Bundespräsidenten Christian Wulff wandte, auf breite Gegenwehr stießen, schlug Seehofer am heutigen politischen Aschermittwoch in die gleich Kerbe wie Friedrich: Der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Er führte gar die Aufklärung auf eine christlich-jüdische Tradition zurück. Indessen ist interessant, dass sich gerade die aufgeklärt zeigenden EuropäerInnen um 1800 ausdrücklich auf den Islam beriefen. Johann Wolfgang von Goethe studierte intensiv den Islam, Bettine von Arnim widmete eine ihrer Schriften ausdrücklich dem „Geist des Islam“. Der bekannte, die Vernunft des Menschen betonende, Roman „Robinson Crusoe“ aus dem 18. Jahrhundert, war eine späte Entsprechung einer von Ibn Tufail im arabisch-islamischen Mittelalter veröffentlichten Schrift, die die Vernunft des Menschen zentral gesetzt hatte: „Hajj ibn Jaqzan der Naturmensch“. Weiterlesen

Homophobe und rassistische Diskriminierungen – Eine neue Studie, auf die ein genauer Blick lohnt

(veröffentlicht in: „Rosige Zeiten“ (www.rosige-zeiten.net), Nr. 128, Juni/Juli 2010)

Soeben erschienen ist eine Studie zu Diskriminierungerfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund insbesondere auf Grund von Homosexualität. Während sich die Macher_innen der Studie – Forscher_innen der Universität Jena – in der Studie sehr zurückhaltend äußern, titelte der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD) als Auftraggeber der Studie: „Deutlich erhöhte Diskriminierungsrisiken. LSVD veröffentlicht Studie zur Lebenssituation von Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund“ – und fokussiert im Folgenden sexuelle Orientierung als Diskriminierungsgrund. Während der LSVD zu dem Schluss kommt, dass insbesondere die Migrant_innen-Familien zu behandeln seien, um Homosexualität der Kinder anzuerkennen und die Kinder insbesondere Ausgrenzungen auf Grund der Homosexualität erleben, anstatt rassistische, sagen die Ergebnisse der Studie anderes. Das Online-Magazin Queer.de lehnte sich weitgehend an die Pressemitteilung des LSVD an, offensichtlich ohne zumindest einen Blick in die Jenaer Studie geworfen zu haben. So hat die Online-Zeitschrift nicht einmal festgestellt, dass die Jenaer Studie 99 Seiten hat – Queer.de schreibt von einer 51seitigen Studie.
Interessanter sind indes die Ergebnisse der Studie selbst. So heißt es in der Zusammenfassung und Diskussion der Hauptergebnisse unter den Punkten 1 und 2: Weiterlesen

„Sein ganzer Traum von Männlichkeit“. Cem Yildiz sagt, wo es langgeht

(rezensiert von Salih Alexander Wolter, erscheint in „Rosige Zeiten“ (Nr. 128, April/Mai 2010, vorab online mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)

Cem Yildiz ist in Berlin-Schöneberg zu Hause, wo Trends für den schwulen Mainstream der Bundesrepublik gesetzt werden – nur beruflich war er lange Zeit „vom Outfit her eher Neukölln“ (S. 24). Heute ist er 31 und absolviert eine Ausbildung zum Heilpraktiker. Er bekundet, selbst nie ein Problem damit gehabt zu haben, auch auf Männer zu stehen, und sagt, er raste aus, wenn er mitbekomme, dass „Homos zusammengeschlagen, bedroht und blöd angemacht“ werden (S. 39). Wenn es ungewollt geschieht, wäre hinzuzufügen. Denn mit seinem Bericht Fucking Germany. Das letzte Tabu oder Mein Leben als Escort bietet er eine gänzlich andere als die in den Medien gepflegte Perspektive auf das Thema „Schwule als Opfer“ bzw. „hypermaskuline Jugendliche nichtdeutscher Herkunft“ als Täter. Doch Yildiz kann auf zuverlässiges empirisches Material zurückgreifen: Über ein Jahrzehnt gab er – der „kein Akademikerkind“ ist, aber „auch nicht aus einer Problemfamilie“ stammt (S. 216) – auf Bestellung  „den ‚authentischen‘ knallharten Türkenmacker von der Straße“ (S. 13), in Berlin und auf Kurztrips auch andernorts im Land. Bezahlt wurde er dafür vor allem von homosexuellen Männern, und besonders gern buchten die ihn für die „Ghetto-Nummer“ (S. 24) – inszenierte Überfälle mit anschließender brutaler Vergewaltigung. Seine Erfahrung: „Je krasser die Filme und Klischees, die sie im Kopf haben, desto höher die Nachfrage nach dem wilden, gewalttätigen Ali.“ (S. 64) Weiterlesen

Rassistische Polizeigewalt

(von Heinz-Jürgen Voß; erschienen in: „Rosige Zeiten“ Februar/März 2009)

 
Der Dezember 2008 gab ’schreiende‘ Anlässe, rassistisch motivierte Gewalt von Seiten der Polizei in den Blickpunkt zu rücken. Diese zwei ‚Vorfälle‘ werden hier noch einmal vorgestellt. Letztlich geht es nicht darum, Polizist_innen unter den Generalverdacht zu setzen, gewalttätige Übergriffe zu verüben. Aber es geht darum, ‚Vorfälle‘ in den Blick einer kritischen Öffentlichkeit zu rücken und auch Polizist_innen zu ermutigen, nicht wegzuschauen und nicht in einem falsch verstandenen Zusammengehörigkeitsgefühl, Straftaten zu decken.

Am 7. Januar 2005 kam Oury Jalloh, ein Bürgerkriegsflüchtling aus Sierra Leone, in der Zelle 5 des Dessauer Polizeireviers ums Leben. Er verbrannte bei lebendigem Leibe. Auf einer Matratze liegend, gefesselt an Händen und Füßen sollte Jalloh sich selbst angezündet haben. Gleichwohl musste die Anklage gegen die angeklagten Polizisten fallengelassen werden, dies nicht weil sie eindeutig von einer Schuld freigesprochen werden konnten, sondern weil ein ganzes Polizeirevier mauerte. Entsprechend erklärte der Richter den Prozess für gescheitert, gescheitert an Schweigen und sich widersprechenden Aussagen. Diese hätten es unmöglich gemacht, den gesamten Vorfall zu erhellen. Nicht geklärt wurde, wie Jalloh, der durchsucht wurde, Streichhölzer mit in die Zelle habe nehmen können, wie er sich in gefesseltem Zustand selbst habe entzünden sollen und warum trotz Feueralarms und Hilfeschreien die über die Gegensprechanlage wahrnehmbar waren keine Polizist_innen ihm zu Hilfe eilten. Ein im Jahr 2006 für den Prozess erstelltes Gutachten stellte fest, dass sofern sofort Polizist_innen Jalloh zu Hilfe geeilt wären, er mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können. Nach 22 Monaten, 60 Verhandlungstagen endete der Prozess am 8. Dezember 2008. (1) Weiterlesen

Hans Peter Hauschild (Hrsg.): Fluchtversuche. Das Leben des Miro Sabanovic zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo und Ausländerbehörde.

rezensiert von Heinz-Jürgen Voß, für „Rosige Zeiten“, Nr. 119)

Ein kleines bisschen Unrecht wird Miro Sabanovic schon wieder getan: Eine „Frechheit auf zwei Beinen“, wie es im Nachwort des Herausgebers Hans Peter Hauschild (mittlerweile verstorben) heißt, ist er gewiss nicht. Dies wird nach der Lektüre von Miros Tagebuchaufzeichnungen deutlich. Problematisch ist es, dass im ausführlichen Nachwort Kinderprostitution und die Hierarchie zwischen Freiern und Kindern bei dieser nicht problematisiert werden…

Miro Sabanovic hat eine unglaubliche ganz große Lebensgeschichte an Hand seiner Tagebuchaufzeichnungen zu erzählen, die ich nicht erlebt haben möchte. Kurz vorangestellt sei: die Geschichte ist lesenswert. Sie offenbart Gedanken eines Menschen, der in seinem Leben wahnsinnige Qualen über sich ergehen lässt, und dennoch ein kreischendes, aufbegehrendes, wütendes, freudiges, liebevolles Wesen hat. Er sorgt für Anstoß, stiehlt – auch weil er von seinen Eltern schon von früh an dazu genötigt wurde –, erleidet schwerste Verbrennungen, mutwillig verursacht von seinen Eltern, weil er weggelaufen war… oder er wird mit einer Kette gefesselt und so lange auf seinen Schädel eingeschlagen, bis Miro blutig und ohnmächtig ist… Im zerfallenden Jugoslawien wird er mehrfach von der Polizei festgenommen und schwer misshandelt, dann wieder zu den Eltern gelassen. Seit 1992 hat er Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, er muss wieder stehlen, flieht, wird immer wieder gefunden, flieht in ein Heim, in dem er sich sicher glaubt… aber als eine Sozialarbeiterin bei einem seiner Wutanfälle droht, die Familie zu informieren, flieht Miro wieder. Miro macht mit Gefängnissen Bekanntschaft – wegen Diebstahls; sein Bruder der seine Frau erstochen hat, bekommt ein Jahr auf Bewährung. In der ersten Gefängnishaft ergänzt er seine bereits gute deutsche Aussprache auch durch die Kenntnis des Lesens und Schreibens – eine Sozialarbeiterin, die er zunächst nicht mag und dann liebgewinnt und die auch weiterhin zu Unterrichtsstunden zu ihm kommt und einfach zuhört, obgleich er aus ihrem Bereich verlegt wurde, hat daran großen Anteil. Über einige Polizist_innen in der BRD lacht Miro, weil sie ihn immer wieder freilassen und nett behandeln – andere treten und schlagen ihn brutal zusammen, auch in der BRD. Ab einem Alter von zwölf Jahren geht Miro anschaffen, in der schwulen Szene von Berlins Motzstraße. Er geht ins „Datscha“, „Pinocchio“, ins „Tabasco“ oder „Eldorado“, später lieber ins „Filou“, in dem er besser verdient und in dem er immer wieder hofft, auch Benn zu treffen, einen elfjährigen Freund, den er lieb gewonnen hat und der dort ebenfalls anschafft. Er verdient dort nicht schlecht, lernt nette Freier kennen, die gut bezahlen und ihm etwas Geborgenheit und Liebe geben. Einige halten länger zu ihm, ersetzen ihm den liebevollen Vater… Als er das erste Mal einen Freier hat, erschrickt er sich, über die länge des Schwanzes – und als etwas weißes herausspritzt, dass er an sich noch nie so erlebt hat. Das erste Mal gefickt werden, mit Rolf, empfindet Miro als sehr angenehm – dabei bekommt er auch einen Ständer… Miro kommt auf Dope, auf Heroin, kommt mehrfach davon los und wird dann wieder rückfällig, er heult, mag sehr gern seinen kleinen Bruder – für den er auch sein Leben geben würde, wie er schreibt –, liebt Robert – der viel für ihn tut, und Miros Ungerechtigkeiten aushält und wohl auch Heute noch für Miro da ist, wo ihre Liebe an all den Zumutungen zerbrochen ist und Miro Sabanovic nach Bosnien abgeschoben wurde… Weiterlesen