Tag Archiv für Queer

Kapitalismuskritische Perspektiven im Anschluss an Volkmar Sigusch

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst veröffentlicht bei www.kritisch-lesen.de (Direktlink); Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

 

Volkmar Siguschs 1984 erschienenes Buch „Die Mystifikation des Sexuellen“ bietet gute Anknüpfungspunkte, um die Eingebundenheit der Kategorien „Geschlecht“ und „Sexualität“ in die kapitalistische Produktionsweise verstehen und Ableitungen für emanzipatorisches Streiten treffen zu können. Zusammen mit weiteren – auch neueren – Arbeiten Siguschs ergeben sich Anschlussmöglichkeiten für die kapitalismuskritische und antikapitalistische Fortentwicklung feministischer und queer-feministischer Ansätze.

Nach dem Zusammenbruch „des Ostblocks“ seit dem Ende der 1980er Jahre setzte sich zunächst eine breite Enttäuschung und Lethargie bezüglich gesellschaftlicher Alternativen durch. Eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem erschien vielen als quasi unmöglich. Gleichzeitig brachen auch „im Westblock“ – insbesondere in den „alten Bundesländern“ der dann um die „neuen Bundesländer“ vergrößerten Bundesrepublik Deutschland – große Teile der linken, sozialistischen Infrastruktur weg, die zuvor über Unterstützung aus dem Lager sozialistischer Staaten mitfinanziert worden war. Ergebnis auch dieser beiden Entwicklungen war es, dass es um kapitalismuskritische oder gar antikapitalistische Ansätze zunächst still wurde. Waren in den 1980er Jahren in der DDR und der BRD Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem auch feministisch (und teilweise schwul) erdacht wurden, die auf Gleichberechtigung von Frauen und Männern zielten und sich gegen eine staatliche Reglementierung von Sexualität wandten, so kamen nun feministische Ansätze diesbezüglich zahnlos daher, fand lediglich noch eine Beschreibung des Lebens von Frauen und Männern auf Basis der derzeitigen Wirtschaftsordnung statt. Diese Entwicklung betraf auch die einsetzenden queer-feministischen Überlegungen, die sich gegen die Grundannahme binärer Geschlechtlichkeit wandten (und die die Kritiken an heterosexuellen Normen und Zwängen befeuerten). Ist zwar schon in dem Begriff der „Performativität“ im Anschluss an die „Queer-Ikone“ Judith Butler deutlich angelegt, wie das stete Aufgreifen von Zeichen und Symbolen durch die Menschen selbst erst zur steten Herstellung von Geschlecht führt und wie den Menschen dieser Zusammenhang aber nicht klar wird, weil ihnen der Zusammenhang ihrer eigenen Tätigkeit und ihres eigenen Zusammenleben als „vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende“ (Karl Marx, „Die deutsche Ideologie“) Erscheinung vorkommt, so gelingt es vielen Rezipient_innen von Butlers Theorien nicht, an diesen kapitalismuskritischen Fingerzeig anzuschließen. Geschlecht ist – und das macht Butler in „Gender trouble“ („Das Unbehagen der Geschlechter“) klar – eben nicht einfach da, sondern ist gesellschaftlich eingebunden und entsteht erst durch das stete und ständige Tun der Menschen. Weiterlesen

Vom Gay Pride zum White Pride – Koray Yilmaz-Günay (Hrsg.): „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre „Muslime versus Schwule“: Sexualpolitiken seit dem 11. September“

(Rezensiert von Heinz-Jürgen Voß; die Rezension ist zuerst erschienen auf www.kritisch-lesen.de – herzlichen Dank an die Redaktion für das Einverständnis zur Zweitveröffentlichung!)

 

Wie in einem Brennglas erscheinen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 die seit dem Kolonialismus etablierten westlichen Imaginationen über „den Islam“ – Geschlecht und Sexualität waren und sind in diesen zentral. Und es blieb nicht bei Vorstellungen, sondern es wurden in westlichen Staaten demokratische Grundrechte abgebaut und Kriege begonnen – in weiten Teilen begründet mit Argumentationen über Geschlecht und Sexualität.

Die Anschläge des 11. September 2001 („9/11“) auf das World Trade Center und das Pentagon, bei denen mehr als 3000 Menschen starben, haben in der Weltgeschichte der letzten zehn Jahre deutliche Spuren hinterlassen. Demokratische Staaten haben nicht etwa mit den Möglichkeiten ihrer Gesetze reagiert und die Verbrechen nach dem Strafgesetzbuch geahndet. Stattdessen fanden Kriege statt, wurden militärische Drohungen ausgestoßen und im Inneren grundlegende demokratische Rechte für obsolet erklärt bzw. gleich ganz aufgehoben. Begleitet war diese Entwicklung von einer intensiven Diskursivierung des Islam, nicht etwa nur jener Verbrecher, die diese Anschläge verübten. Der Islam erschien nun vielen als bedrohlich. Die emotionale Erregung, die viele Menschen mit den Anschlägen erfasste, kanalisierte sich – westlich – hin zu einer Ablehnung des Islam an sich und zu Vorbehalten selbst gegenüber ganz konkreten Menschen, die als Musliminnen und Muslime erschienen. Weiterlesen

„Pardon, wir hätten da mal was zu sagen!“ Sineb El Masrar: Muslim Girls – Wer wir sind, wie wir leben.

(von Heinz-Jürgen Voß; zuerst veröffentlicht in „Rosige Zeiten“ (Nr. 134), Nachdruck bei kritisch-lesen.de (Nr.7))

Sineb el Masrar - Muslim Girls„Das Bekenntnis: ‚Ich heiße Fatma, bin Muslima und das ist auch gut so‘, klingt in den Ohren mancher eher wie ein bemitleidenswertes Statement denn wie ein hippes Großstadtpostulat, mit dem frau zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin aufsteigen kann. In der Regel wird nicht mit uns geredet, sondern gerne über uns. Wenn uns dann jemand nicht wieder in Frage, sondern eine Frage stellt, dann sind das Fragen meist dieser Art: Kannst du auch Islamisch sprechen? Würdest du deine Tochter auch beschneiden? Darfst du hier im Schwimmbad überhaupt schwimmen? Bist du schon jemandem versprochen? Wurde dein Mann von deiner Familie ausgesucht? Haben deine Eltern kein Problem damit, dass du hier im Ausland arbeitest? Oder ganz kreativ: Gehst du auch mit Kopftuch unter die Dusche? Ja, so macht es Spaß, in Deutschland zu leben. Wer braucht schon einen Glückskeks mit Sprüchen, wenn man stattdessen fortwährend Überraschungsfragen gestellt bekommt, die uns eigentlich auch schon nicht mehr überraschen können.“ (S.16)

Die vielfältigen und individuellen Lebensgeschichten der „Muslim Girls“
Sineb El Masrar fängt ganz vorne an, da wo bei vielen gleich die „Vorurteilshamster in den Köpfen auf Hochtouren“ laufen. Denn da wo „wir“ mittlerweile bei queer ankommen und Lesben und Schwule gern auf ihre Vielfalt und ihre ganz individuelle Einzigartigkeit verweisen, sind Menschen mit dunklen Haaren oft nur eines: Muslime. Muslimische Frauen werden bemitleidet, ihre Emanzipation wird selbst zentrales Interesse der bayrischen Hausfrau, die in absoluter ökonomischer Abhängigkeit ihres Ehemannes steht. El Masrar verlangt nur eines: Zuhören. Und da das bislang kaum jemand möchte, macht sie mit diesem Buch einen Anfang – und erzählt erst einmal. Sie beschreibt wer denn eigentlich diese Muslim Girls sind, wer ihre Eltern, wer ihre Brüder sind. Und es wird gleich eines offensichtlich, es sind vielfältige, ganz individuelle Lebensgeschichten, die erst erfahrbar werden, wenn man miteinander spricht. Geboren in Hannover, aufgewachsen in der niedersächsischen Provinz, mit Ausbildungen zur Erzieherin und Kauffrau, tätig in Grundschulen, in der Filmbranche und in einem von ihr gegründeten multikulturellen Frauenmagazin, Teilnehmerin der Deutschen Islam Konferenz legt El Masrar dieses kenntnisreiche und amüsant geschriebene Buch vor. Weiterlesen

Homohochzeit in Kriegszeiten: Buch von Judith Butler zur Antikriegspolitik

(Rezension von Eugen Januschke; zuerst erschienen in der Zeitschrift „Zivilcourage – Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK“ (www.zc-online.de), Mai 2011. Herzlichen Dank an die Redaktion für die Genehmigung der Zweitveröffentlichung!)

Judith Butler - Queere Bündnisse und AntikriegspolitikNoch haben wir einen öffentlich bekennenden Schwulen als Außenminister. Und der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages Reinhold Robbe heiratete am 16. April Freo Majer, der mit seinem Verein „Frontkultur“ Theater für deutsche Soldaten in Afghanistan macht.
Die Zeiten, da man annehmen konnte, dass Schwule der Bundeswehr zumindest mit Vorbehalten gegenüber stehen, scheint vorbei. Nicht nur viele Schwule sehen Staat und Bundeswehr als Verteidiger ihrer „Minderheitenrechte“. Judith Butler ordnet dies ein in „… Versuche, Schwule für den Aufbau nationalistischer und fremdenfeindlicher Kulturen zu rekrutieren …“, so in ihrem nun publizierten Vortrag „Queere Bündnisse und Antikriegspolitik.“

Gehalten wurde dieser Vortrag in der Berliner Volksbühne am Vorabend des Christopher-Street-Day (CSD) letzten Jahres. Butler sollte auf der Abschlusskundgebung des CSD dessen Zivilcouragepreis verliehen werden. Dort verweigerte sie öffentlich die Entgegennahme und begründete dies mit rassistischen Tendenzen innerhalb einiger Organisationen, die den CSD in Berlin veranstalten. Da es personelle Überschneidungen zwischen dem Veranstalter des Abends mit den Organisatoren des CSD gibt, konnte offensichtlich nicht der Versuchung widerstanden werden, den Beitrag im Buch noch um „Annotationen“ zu ergänzen, die sich um diesen Rassismusvorwurf drehen. Dabei ist das Anliegen des Textes von Butler durchaus weitergehend, indem sie Grundlagen für eine queere Antikriegspolitik aufzuzeigen sucht. Weiterlesen

Werde Feministin! Zur neu erschienenem Einführung „Feminismus“ von Giseal Notz

(von Heinz-Jürgen Voß; zuerst erschienen in „Rosige Zeiten“, Nr. 133 (Mai / Juni 2011)

Gisela Notz - Feminismus„Während bürgerliche Medien biologistische Theorien vom ‚Wesen der Frau‘ aufleben lassen und ein Comeback überkommener Geschlechterstereotype in ihre Gazetten schreiben, nutzen junge Feministinnen die neuen Medien, werden Popperinnen und Bloggerinnen und verbreiten Onlinemagazine oder Printmedien wie das Missy Magazine. Andere organisieren phantasievolle Gegendemonstrationen gegen christliche Fundamentalisten und Evangelikale, denen das Recht auf selbstbestimmte Sexualität ein Dorn im Auge ist, oder gründen an den Universitäten feministische Gruppen […].“ (S.121)
Feminismus ist lebendig und ist bitter notwendig, wie Gisela Notz in ihrer Einführung in den Feminismus beschreibt, die sie so auch betitelt: „Feminismus“. Während in den letzten Jahren, ja selbst zum 100. Jahrestag des Internationalen Frauentages, auch Frauen darüber debattieren, ob der Begriff „Feminismus“ überhaupt noch verwendet werden oder ob besser auf „Gender“ ausgewichen werden solle, legt Notz eine kurze, fundierte und gut lesbare Bestandsaufnahme dieser Bewegung vor, aus der eins deutlich wird: ja, wir brauchen Feminismus. „Gender“, wir alle kennen es aus den verschiedensten Illustrierten, ist zu einem entpolitisierten, institutionalisierten Projekt geworden, bei dem maximal die Frage aufgeworfen wird, wie denn genügend Frauen in Führungspositionen der größten DAX-Unternehmen gelangen. Nebenbei werden dann schnell mal autonome Frauenräume geopfert, erscheinen sie doch nicht mehr zeitgemäß, weil Frauen und Männer doch nun gleichberechtigt miteinander streiten würden. Weiterlesen

Weg mit dem Queer-Ding! Ansätze für eine queere Kapitalismuskritik

Debattenbeitrag im Anschluss an arranca Nr. 41 und red & queer Nr. 16 zu aktuellen deutschsprachigen Arbeiten „queerer Ökonomiekritik“; verfasst von Heinz-Jürgen Voß.

Eine Situationsbeschreibung
In der Ausgabe der lesbisch-schwulen Zeitschrift Siegessäule Juli/2008 wurde unter dem Titel „Queer gewinnt“ ein abschließendes plastisches Bild davon gezeichnet, wie „Queer“ nicht nur in Subkulturen verstanden, sondern wie es aktuell auch in der deutschsprachigen Rezeption der „Queer theory“ verhandelt wird. „Berlin ist total queer. Wir feiern das, wir sind mal so frei. Doch leider gibt’s immer noch genug Leute, die uns das vermasseln wollen“ – heißt es dort, womit punktgenau die Problemfelder benannt sind, die eine unbedingte Kritik an Queer und derzeit prominent verhandelten deutschsprachigen Arbeiten zu „Queerer Ökonomiekritik“ notwendig machen.
Queer muss an dieser Stelle nicht grundsätzlich erläutert werden; es sei nur zu den bislang verbreiteten Definitionen seines perversen, verstörenden, zu Normierungen und kollektiven Identitäten kritischen Charakters hinzugefügt, dass Queer einen Ursprung in radikalen politischen Bewegungen hat. Queer wurde nicht in abgeschlossenen Elfenbeintürmen als abstraktes Gedankengebäude erdacht, wie es derzeit mit den ausschließenden Verhandlungen an Universitäten und auf Konferenzen den Anschein macht, schon gar nicht wurde es von Männern und Frauen einer weißen bürgerlichen Mittelklasse entwickelt. Irgendwann war es nur sexy und einladend genug auch für diese – und im deutschsprachigen Raum kommt noch diese anziehende sprachliche Unverständlichkeit hinzu, die weniger Abwehr erwarten lässt, als wenn man sich als „Schwuchtel“ oder „Tunte“ bezeichnete. Weiterlesen

Queerfeministische Ökonomiekritik? Eine Randnotiz zum Ende des Kapitalismus

(von Salih Alexander Wolter, veröffentlicht in: „Rosige Zeiten“ (Oldenburg, www.rosige-zeiten.net), Nr. 128, Juni/Juli 2010)

Ein kleines Aufmerken verdient es doch, dass sie den Kapitalismus jetzt auch endlich – nein, nicht weggehauen, sondern dekonstruiert haben. Kathrin Ganz und Do. Gerbig nämlich, die so was natürlich am PC erledigen. Was sie in der arranca! 41 unter dem üppigen Titel Diverser leben, arbeiten und Widerstand leisten: Queerende Perspektiven auf ökonomische Praxen der Transformation veröffentlicht haben, nennen sie einen Beitrag zur „queerfeministischen Ökonomiekritik“. Aber in dem Aufsatz wird bloß Diversity-Lyrik, wie sie artiger nicht einmal deutsche Großbanken vorzutragen verstehen, mit dem „subversiven“ Gedankengut der Saison gestreckt – und unversehens hat der Kapitalismus fertig.
Dabei machen Ganz und Gerbig in der Einleitung noch in verbaler Street-Credibility : „Alles beginnt für uns damit, die Norm des Kapitalismus … anzugreifen.“ Klingt das nicht nach „Systemfrage stellen“? So lautete bündig die Überschrift einer Vorschau auf die zahlreichen Veranstaltungen, bei denen in diesem Jahr zum 8. März und noch Wochen danach überall in Deutschland junge Linke „Forderungen der ‚traditionellen‘ antikapitalistischen Frauenbewegung“ aufnehmen und erweitern wollten. Denn in den Horizont einer umfassenden Gesellschaftskritik gehören längst auch intersektionale Ansätze, wie sie hierzulande vor allem von Schwarzen Lesben und migrantischen Queer- Aktivist_innen aus ihren spezifischen Erfahrungen von Mehrfachdiskriminierung heraus erarbeitet werden. Entsprechend wandten sich die linken Frauen gegen „einen Feminismus, ‚der sich nicht mit der Verschränkung verschiedener Herrschaftsstrukturen wie Rassismus, Kapitalismus und Geschlechterverhältnissen auseinandersetzt und sich nur um die Belange einer weißen Mittelschicht bemüht‘“. Sie lehnten also ausdrücklich einen Mainstream ab, „der individualistisch oder sogar an traditionellen Vorstellungen orientiert sei“, und bezogen sich dazu teilweise gleichfalls auf queerfeministische Ökonomiekritik (Zitate aus junge welt vom 5. März 2010). Doch was Kathrin Ganz und Do. Gerbig unter diesem Stichwort abliefern, erscheint wie das Gegenprogramm, mit dem ein komplizierter gewordenes Leben gleichsam wieder zum Ponyhof verklärt wird. Die „Intersektionalitätsdebatte“ dient ihnen dabei lediglich als Vorwand, das Kapitalverhältnis nicht länger so wichtig nehmen zu müssen – und genau deshalb können sie auch nicht an emanzipatorische Traditionen anknüpfen oder diese gar fortentwickeln. Clara Zetkin und Simone de Beauvoir waren bereits viel weiter. Weiterlesen

Verqueerte Verhältnisse

rezensiert von Salih Alexander Wolter (vorab aus: „Rosige Zeiten“, 125)

Verqueerte Verhältnisse betitelt die AG Queer Studies der Hamburger Universität den vor kurzem erschienenen zweiten Sammelband zu ihrer Vorlesungsreihe „Jenseits der Geschlechtergrenzen“. Dieses queer-feministische wissenschaftliche Angebot, hervorgegangen aus einem 1990 mit schwulem Schwerpunkt begründeten Projekt, ist umso bemerkenswerter, als in der Bundesrepublik insgesamt – sehr zurückhaltend formuliert – „Rückschritte bezüglich der Anerkennung und Einschreibung von geschlechter- und sexualitätenpolitischen Themen in das akademische Feld zu beobachten sind“ (S. 31f). Offenbar soll bald kein informierter Einspruch mehr das Publikum gelegentlich irritieren – und schon gar nicht soll die lästige Machtfrage gestellt werden -, wenn beispielsweise „rassistische Feminismen“ à la „Alice Schwarzer und der Kreis um die Zeitschrift EMMA“ (S. 11) ihr borniertes „Wissen“ über Migrant_innen auf sämtlichen verfügbaren Kanälen verbreiten. Das wäre dann, im Wortsinn, dumm gelaufen – wie so vieles, seit man sich an hiesigen Hochschulen dem verschreibt, was Wirtschaft und herrschende Politik für „Exzellenz“ halten. Dabei ließe sich im heute angesagten Sprech doch auch bedauern, dass „Deutschland“ darauf verzichtet, sich um internationale Wettbewerbsfähigkeit auf einem zukunftsweisenden Gebiet der Sozialwissenschaften zu bemühen. Weiterlesen

„Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“

(von Heinz-Jürgen Voß, erschienen in „Rosige Zeiten“, Juni/Juli 2009)
Im März diesen Jahres hat das Berliner Abgeordnetenhaus eine weitreichende Initiative verabschiedet, die Maßnahmen zum Abbau von Diskriminierungen beinhalten, die über bisherige weit hinausgehen (Drucksache 16/2291).

Bisherige Gesetze – Abschaffung unterschiedlicher Schutzaltergrenzen bei Homo- und Heterosexualität (1994), Eingetragene Lebenspartnerschaft (2001), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2006) – waren dazu gedacht, Diskriminierungen in der Gesellschaft abzubauen und für Toleranz und Akzeptanz zu wirken. In der Folge dieser Gesetze wurden weitere Regelungen angeglichen, die bspw. bislang homosexuelle Paare, die in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft (ELP) leben gegenüber heterosexuellen Paaren in einer Ehe diskriminierten. Berlin hat hier vielfach eine Vorreiterinnenrolle in der Bundesrepublik Deutschland eingenommen, hat bspw. eine Landesstelle für Gleichbehandlung geschaffen, auf sexuelle Vielfalt verweisende Lehrpläne initiiert, die Gleichbehandlung von in ELP und in Ehe lebenden Paaren vorangetrieben.

Dennoch zieht das Berliner Abgeordnetenhaus in der großen Mehrheit – die CDU-Fraktion war bei der Abstimmung nicht zugegen – eine ernüchternde Bilanz: „Trotz dieses breiten Engagements hat sich bislang gezeigt, dass grundsätzliche Veränderungen in der Akzeptanz sexueller Vielfalt nicht nur eines langen und kontinuierlichen Wirkens bedürfen, sondern auch einer Erweiterung der bestehenden Antidiskriminierungsarbeit. Ohne einen Ausbau, der an den richtigen Stellen ansetzt, ist zu befürchten, dass die bisherigen Maßnahmen angesichts des Ausmaßes der Ablehnung und Gewalt gegenüber LSBTTI [Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle, Anm. der Autorin] den gesellschaftlichen Veränderungsprozess nicht lange genug und ausreichend stützen können.“ Das Berliner Abgeordnetenhaus stellt fest: „Akzeptanz lässt sich nicht anordnen.“ Weiterlesen

Die Rückkehr der Geschlechterbinarität – und ein wirksames Gegengift: selber Denken.

(von Heinz-Jürgen Voß; erschienen in: „Rosige Zeiten“ August/September 2007; hier leicht geänderte Fassung)

„Es ist, als müßte um jeden Preis ein Fehltritt vermieden werden; am besten bewahrt uns vor einem solchen Fehltritt eine sexuelle Differenzierung, die auf den ersten Blick erkennen läßt, ob ein bestimmtes Individuum zu der Gruppe möglicher Sexualobjekte gehört oder nicht.“
(A. G. Düttmann, nach: Hirschauer, 1999 S.62)

Insbesondere die Frauenbewegungen aber auch Erkenntnisse anschließend an die Bisexualitäts-Theorie haben Geschlecht als kulturell konstruiert ausgewiesen und breit in biologische Forschungen und medizinische Behandlungen Eingang halten lassen. Jeder Mensch sei Mann und Frau, trage Eigenschaften von beiden Geschlechtern in sich, die sich später durch Sozialisationsprozesse mehr oder weniger eingeschlechtlich ausformen würden (Bisexualitäts-Theorie). Diese Vorannahme fand in medizinischen Programmen zur Behandlung von Menschen mit „uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen“ Umsetzung, wobei – wie bei allen Kindern – zunächst über Klitoris/Penislänge bestimmt wird, ob es sich um einen ‚Jungen‘ oder ein ‚Mädchen‘ handele. Das derzeit noch immer in der Anwendung befindliche Behandlungsprogramm der „frühen Geschlechtszuweisung“ wurde in den 1950er Jahren von John Money, Joan Hampson und John Hampson eingeführt. In diesem wird davon ausgegangen, dass ein Kind bei der Geburt geschlechtlich neutral sei und das sich insbesondere zwischen dem 18. und 48. Lebensmonat die Geschlechterrolle durch soziale Prozesse auspräge. Mit diesem Behandlungsprogramm waren und sind operative und hormonelle Maßnahmen verbunden, um insbesondere die äußeren Genitalien an das Erwartungsbild einer zweigeschlechtlich normierten Gesellschaft anzugleichen. Entsprechend führten auch John Money und Anke Ehrhardt zur Begründung des Behandlungsprogrammes in den 1970er Jahren aus: „Eltern warten neun Monate gespannt darauf, ob ihr Kind ein Mädchen oder ein Junge ist. Sie denken selten daran, daß sie damit auch auf ein entscheidendes Signal warten, wie sie sich dem Baby gegenüber verhalten sollen. Das Aussehen der äußeren Geschlechtsmerkmale und deren Einstufung als weiblich oder männlich setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang. Mit dem Ausruf ‚es ist ein Mädchen’ oder ‚es ist ein Junge’ beginnt eine Kette geschlechtsabhängiger Reaktionen der Umwelt. Rosa bzw. blaue Babywäsche, weibliche bzw. männliche Vornamen und Personalpronomen usw. Alle Menschen, mit denen das Kind in Berührung kommt, werden es geschlechtstypisch behandeln, Tag für Tag, jahrein, jahraus, von der Geburt bis zum Tod.“ (Money, 1975 S.24/25) Weiterlesen