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„Geschlecht: Wider die Natürlichkeit“ und „Making Sex Revisited“

Geschlecht: Wider die NatuerlichkeitDer renommierte Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Rüdiger Lautmann rezensierte für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift für Sexualforschung (2/2012) die beiden Bücher „Geschlecht: Wider die Natürlichkeit“ und „Making: Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“, zu denen sich auch bereits Besprechungen hier auf schwule-seite.de finden (hier und hier). In der umfangreichen Besprechung hält er unter anderem fest:

„Die beiden Bücher attackieren die verbreitete Grundüberzeugung, dass Menschen von Natur aus ein Geschlecht „haben“ und dass dieses Merkmal nach weiblich / männlich strikt zweigeteilt sei. […] Voß trägt seine Attacke nicht – wie sonst so viele – als bloßes Postulat vor, sondern entwickelt sie denkgeschichtlich, und zwar derart materialreich, dass der Kritik irgendwann die Puste ausgehen muss. […] In einer sehr umfangreichen Recherche wird die Forschungsliteratur ausgewertet (bei den historischen Partien sekundäranalytisch). Seitdem man von einer Biologie als Wissenschaft sprechen kann, werden die einschlägigen Texte präsentiert (Primäranalyse). Einige Annahmen, die durchaus als Hypothesen im geläufigen wissenschaftstheoretischen Sinne gelten können, lauten: Die biologischen Aussagen zur Geschlechtlichkeit seien nie eindeutig und ausschließlich auf die Zweierstruktur ausgerichtet gewesen; die allgemein akzeptierte Behauptung von Thomas Laqueur zum Umbruch des Geschlechtsdenkens um 1800 stimme nicht und müsse modifiziert werden; Vorstellungen über mehr als zwei Geschlechter laufen seit dem Altertum im Denkrepertoire mit. Die Biologie muss sich vorhalten lassen, ihre Erkenntnisse seien durch Vorannahmen zum Frauen- und Männerbild programmiert. […] Voß‘ Studien enthalten einen beträchtlichen Mehrwert an Erkenntnis. Man wird zukünftig nicht von der kulturellen Selbstverständlichkeit ausgehen können, die Aufteilung in zwei Geschlechter (zuzüglich einiger quantitativ seltener Besonderheiten wie Transgender und Intersexe) sei ein eindeutiges Resultat der Biologie. Vielmehr wird man anerkennen müssen, dass auch die Biologie – ebenso wie seit einiger Zeit die kulturologische Genderforschung – immer schon mehrere Denkmodelle gepflegt hat.“

Informationen zu den Büchern gibt es hier (Geschlecht) und hier (Making Sex Revisited).
Eine Übersicht über die erschienenen Rezensionen findet sich hier und hier.

Marx hören und verstehen – eine Gesellschaft für alle Menschen gestalten!

Die aktuelle Krise führt brutal vor Augen, dass es notwendig ist, eine Gesellschaft zu entwickeln, die allen Menschen gerecht wird – und in der nicht die vielen Menschen für die Privilegien einiger Weniger arbeiten müssen.

Aktuell ist es tatsächlich möglich, dass auf Nahrungsmittel gewettet wird – anstatt, dass sie gegessen werden können. Das Wetten führt dazu, dass die Lebensmittel für viele Menschen unerschwinglich werden. Die Verarmung der Menschen und sich daran anschließende Unruhen könnten zu ganz krassen Reaktionen der Privilegierten führen – zu einem Abbau demokratischer Bestimmung, zu noch gewalttätigeren Einsätzen der Polizei (oder gar der Armee), als wir sie bisher kennen. Solche Entwicklungen zeigen sich in Europa bereits deutlich. In der Bundesrepublik Deutschland wird von Seiten der Behörden das demokratische Grundrecht, dass sich Menschen versammeln und demonstrieren können, massiv eingeschränkt. Und dabei steht eben nicht im Grundgesetz, dass sich die Menschen versammeln dürfen, wenn staatliche Behörden nichts dagegen haben.

Eine andere gesellschaftliche Entwicklung ist möglich – und nach neueren Umfragen zeigen sich knapp 80 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland mit Kapitalismus unzufrieden. Und Alternativen sollte man aus Erfahrungen lernen und Ansätze weiterentwickeln – hierfür bieten einerseits die Entwicklungen in Südamerika aktuelle praktische Ansatzpunkte. Andererseits lohnt es sich, anknüpfend an die Theorien von Karl Marx weiterzuarbeiten. Hierfür gibt es einiges neues und gutes Material:

1) Die Broschüre „Polylux Marx“ für die Bildungsarbeit.Sie ist hier im Volltext online: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/PolyluxMarx.pdf

 

2) Online finden sich mittlerweile viele gute Vorträge – auch zum Nachhören. Eine gute Sammlung hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung hier angelegt:

 

3) Schließlich gibt es auch einige gute Anschlussmöglichkeiten explizit zu Geschlecht und Sexualität. Hier findet sich eine Übersicht von Texten bzw. ein Vorschlag, wie man sich in die Debatte hineinlesen – und dann selbst weiterdenken und praktisch handeln kann: http://schwule-seite.de/wp/queer-kapitalismuskritik-vorschlag-zur-annaherung-an-die-debatte/ .

Kapitalismuskritische Perspektiven im Anschluss an Volkmar Sigusch

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst veröffentlicht bei www.kritisch-lesen.de (Direktlink); Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

 

Volkmar Siguschs 1984 erschienenes Buch „Die Mystifikation des Sexuellen“ bietet gute Anknüpfungspunkte, um die Eingebundenheit der Kategorien „Geschlecht“ und „Sexualität“ in die kapitalistische Produktionsweise verstehen und Ableitungen für emanzipatorisches Streiten treffen zu können. Zusammen mit weiteren – auch neueren – Arbeiten Siguschs ergeben sich Anschlussmöglichkeiten für die kapitalismuskritische und antikapitalistische Fortentwicklung feministischer und queer-feministischer Ansätze.

Nach dem Zusammenbruch „des Ostblocks“ seit dem Ende der 1980er Jahre setzte sich zunächst eine breite Enttäuschung und Lethargie bezüglich gesellschaftlicher Alternativen durch. Eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem erschien vielen als quasi unmöglich. Gleichzeitig brachen auch „im Westblock“ – insbesondere in den „alten Bundesländern“ der dann um die „neuen Bundesländer“ vergrößerten Bundesrepublik Deutschland – große Teile der linken, sozialistischen Infrastruktur weg, die zuvor über Unterstützung aus dem Lager sozialistischer Staaten mitfinanziert worden war. Ergebnis auch dieser beiden Entwicklungen war es, dass es um kapitalismuskritische oder gar antikapitalistische Ansätze zunächst still wurde. Waren in den 1980er Jahren in der DDR und der BRD Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem auch feministisch (und teilweise schwul) erdacht wurden, die auf Gleichberechtigung von Frauen und Männern zielten und sich gegen eine staatliche Reglementierung von Sexualität wandten, so kamen nun feministische Ansätze diesbezüglich zahnlos daher, fand lediglich noch eine Beschreibung des Lebens von Frauen und Männern auf Basis der derzeitigen Wirtschaftsordnung statt. Diese Entwicklung betraf auch die einsetzenden queer-feministischen Überlegungen, die sich gegen die Grundannahme binärer Geschlechtlichkeit wandten (und die die Kritiken an heterosexuellen Normen und Zwängen befeuerten). Ist zwar schon in dem Begriff der „Performativität“ im Anschluss an die „Queer-Ikone“ Judith Butler deutlich angelegt, wie das stete Aufgreifen von Zeichen und Symbolen durch die Menschen selbst erst zur steten Herstellung von Geschlecht führt und wie den Menschen dieser Zusammenhang aber nicht klar wird, weil ihnen der Zusammenhang ihrer eigenen Tätigkeit und ihres eigenen Zusammenleben als „vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende“ (Karl Marx, „Die deutsche Ideologie“) Erscheinung vorkommt, so gelingt es vielen Rezipient_innen von Butlers Theorien nicht, an diesen kapitalismuskritischen Fingerzeig anzuschließen. Geschlecht ist – und das macht Butler in „Gender trouble“ („Das Unbehagen der Geschlechter“) klar – eben nicht einfach da, sondern ist gesellschaftlich eingebunden und entsteht erst durch das stete und ständige Tun der Menschen. Weiterlesen

Weder Gott noch Gen. Heinz-Jürgen Voß´ „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“

(Rezension von Salih Alexander Wolter, vorab aus „red & queer“, Nr.19 [2011]; die Rezension ist online bei „Leipziger Kritiken“ – , Veröffentlichung mit freundlicher Zustimmung der Redaktion und von Salih Alexander Wolter)

Geschlecht: Wider die NatuerlichkeitVorweg: Unvoreingenommen kann ich dieses Buch nicht besprechen. Ich bin mit seinem Autor seit langem eng befreundet, habe ihn darin bestärkt, es zu schreiben, und selbst gern das Lektorat übernommen – honorarfrei, versteht sich. Denn ich hoffe, dass es zu einer fruchtbaren Diskussion über das Verhältnis von Queer Theory und Marxismus beitragen wird. Mögliche Anschlüsse bietet eine Einsicht, die Robert Steigerwald bereits 1987 im „Blauen Heft“ formulierte, das auf www.dkp-queer.de verfügbar ist: „Im Menschen wirkt kein Dualismus von biologisch angeborenen Verhaltensweisen einerseits und gesellschaftlichen andererseits, sondern Gesellschaftlichkeit wurde zu unserer Natur und bestimmt sämtliche unserer Verhaltensweisen.“
Heinz-Jürgen Voß, eben 31 geworden, gebürtiger Sachse und in der queer-politischen Szene seit Jahren als quirliger linker Aktivist bundesweit bekannt, ist Diplom-Biologe und promovierte im vorletzten Dezember „summa cum laude“ bei dem Sexualwissenschaftler Rüdiger Lautmann in Bremen. Diese Dissertation – unter dem Titel „Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ vor Jahresfrist veröffentlicht – wird seither ungewöhnlich breit und kontrovers rezipiert und geht demnächst in die dritte Auflage. „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“ stellt einerseits eine auch für Nicht-Fachleute gut verständliche Zusammenfassung der Studie dar und nimmt andererseits die laufende Debatte auf, in der sich Voß gegen die verbreitete Tendenz stellt, „subversives“ queeres Denken mit der kapitalistischen Ordnung zu versöhnen. Dabei ist seine inzwischen deutlich marxistische Positionierung seinem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet: Statt sich mit den gängigen „Eindeutschungen angloamerikanischer Herrschaftskritiken, die zu praxisfreien Denkmodellen umgemodelt wurden“, zu begnügen, zeigt er – wie ein Fach-Rezensent des Erstlings lobte – „klar und deutlich, wie Wege der Erkenntnis in Zukunft zu beschreiten sind: nicht vereinfachend, sondern komplex, multikausale Ursachen erwägen, materielle Aspekte nicht vergessen, stets die Frage `Cui bono?´“. Weiterlesen