Tag Archiv für DDR

Das Ende der Strafbarkeit von Homosexualität – 18 Jahre Abschaffung § 175

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst in „Rosige Zeiten“, Nr. 140, Juli/August 2012)

 

Fast geräuschlos ist ein für Schwule so wichtiges Datum vorbeigegangen. Am 11. Juni 1994 wurde der § 175 abgeschafft – das Ende des Paragraphen ist damit quasi volljährig geworden, wie das „Rosa Archiv“ aus Leipzig so schön ausdrückte. Diese Gelegenheit soll hier als Ausgangspunkt dienen, sich einmal der Strafbarkeit von gleichgeschlechtlichem Sex und schließlich dem § 175 grundlegend zuzuwenden. 1994 fiel immerhin nur noch die letzte Ungleichbehandlung weg – die noch festgeschriebenen unterschiedlichen Schutzaltergrenzen, die für heterosexuelle und homosexuelle sexuelle Akte standen. Diese letzte Stufe der Abschaffung wurde in Angleichung an DDR-Recht geschafft. Ja genau – in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung galten bezüglich schwulem Sex noch unterschiedliche Regelungen.

Die zunehmende Problematisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Akte ist so alt wie die christliche Kirche. Denn galten zwar auch in der Antike Geschlechternormen, die Frauen und Männer unterschieden und die diesen auch sexuelle Rollen zuschrieben, so galten diese Regelungen sowohl für gleichgeschlechtliche als auch für andersgeschlechtliche sexuelle Akte. Für Männer galt es als problematisch, passive Rollen einzunehmen; Frauen sollten keine aktiven Rollen einnehmen. Das galt für die gesellschaftliche Position insgesamt wie für den sexuellen Akt im Besonderen. Weiterlesen

„Einer der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte“ – Doppelrezension zweier Bücher von und über Ronald M. Schernikau

von Ralf Buchterkirchen

irgendwer hat den leuten eingeredet, wir alle müssen sterben, das ist natürlich völliger humbug. keiner stirbt, wenn er nicht will, und jeder lebt, solange er weitermacht, das problem ist: die leute machen nicht.
R.M. Schernikau, Legende

Ronald. M. Schernikau, geboren 1960 in Magdeburg, ging 1965 mit seiner Mutter in den Westen. Mit 19 Jahren veröffentlichte er die   ‚Kleinstadtnovelle‘ – diese  Geschichte über Coming Out in der Provinz wurde sein erfolgreiches Debüt. Nach dem Abitur zog er nach Berlin, lernte dort unter anderem Mathias Frings und die Westberliner Polit- und Schwulenszene kennen. Jedoch versuchte er weitgehend erfolglos einen Verlag für seine späteren Arbeiten zu finden. 1987 gelang es ihm,  in der DDR, am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher, zu studieren. Als Abschlussarbeit entstehen „Die Tage in L“. In der DDR werden sie nicht gedruckt, ihr Erscheinen im Westen fällt mit dem Fall der Mauer zusammen. Im September 1989 wird Schernikau DDR-Bürger, arbeitet an der „Legende“ – seinem Hauptwerk. 1991 stirbt Ronald M. Schernikau mit 31 Jahren an AIDS.
Dieses Jahr sind zwei Bücher erschienen, die sich auf unterschiedliche Weise dem Leben Schernikaus zuwenden und die je sehr verschieden mit dem Leben des Künstlers verbunden sind. Mathias Frings zeichnet in ‚Der letzte Kommunist‘ anhand ihrer gemeinsamen Biographie das Leben des Ronald M. Schernikau höchst amüsant, aber auch nachdenklich nach.
‚Irene Binz. Befragung‘ ist hingegen die Lebensgeschichte von Ellen Schernikau, Ronalds Mutter, die sie ihm – er war damals 21 Jahre alt – in langen Interviews erzählte und zum Geschenk machte. Gut lesbar, mit dem Eindruck der Naivität sichtlich spielend, hat Ronald M. Schernikau diese Interviews in einen Roman verwandelt. Beide Bücher bilden einen spannenden unverstellten Blick auf deutsch-deutsche Geschichte und beschreiben direkt und indirekt einen der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte. Aber der Reihe nach: Weiterlesen

Schwule DDR – Doppelrezension: Setz (2006): „Homosexualität in der DDR“, Lemke (1989): „Ganz normal anders“

„In diese Wohnung bin ich Anfang der fünfziger Jahre gezogen. Vor meinem Einzug ging der Abschnittsbevollmächtigte von Haushalt zu Haushalt, da wo junge Männer lebten, und informierte: Erster Hinterhof, Mitte, zwei Treppen, rechts, da zieht ab nächsten Ersten so einer ein. Vorsicht. Eine bessere Reklame konnte der für mich gar nicht machen. Es dauerte knapp zwei Wochen, da hörte ich das erste schüchterne Klopfen an meiner Tür…“ (Lemke, S.30/31, Setz, S.16)

Es ist nicht leicht, ein komplexes Bild einer ganzen Gesellschaft zu zeichnen. Man hat die Möglichkeit der Annäherung über rechtliche Grundlagen oder über persönliche Erfahrungen. Beide Sichtweisen lassen Lücken, werden notwendiger Komplexität nicht gerecht. Mut zur Lücke heißt aber auch, Freiräume zu lassen, für viele Erfahrungen, oder Interpretationen, kein Bild festzuzurren, dass es eindeutig wohl gar nicht gegeben hat, sondern bewegte Bilder zuzulassen die vielmehr surrealistisch, ständig verändernd neue Anforderungen an die Wahrnehmung formulieren. Zur DDR haben viele Menschen abgeschlossen. Entweder das Bild der verlorengegangenen sozialistischen ‚heilen Welt’ oder des fundamentalen, sämtliche individuellen Rechte beschneidendenden sozialistischen Ungetüms herrscht vor. Seien wir nicht so voreilig. Nehmen wir uns Zeit und entwerfen differenzierte Bilder der Vergangenheit, um daraus lernen und neue emanzipatorische Entwicklungen gewinnen zu können. Weiterlesen