Tag Archiv für antinationalismus

Statt deutscher schwuler Bevormundung – russische Lesben und Schwule müssen den Ton angeben

von Heinz-Jürgen Voß, zuerst veröffentlicht in Rosige Zeiten (Heft 150, S.28/29)

 

Schon vor den Weltkriegen wurde in deutschen Medien ein Bild Russlands als ‚aggressiv‘, ‚barbarisch‘, ‚unzivilisiert‘ und ‚unerschlossen‘ gezeichnet. In entsprechende Beschreibungen und Karikaturen waren ebenso antisemitische Stereotype und seit der Oktoberrevolution auch ‚Warnungen vor den Bolschewisten‘ eingeflochten. Das nationalistische und völkische Deutschland wollte seine Vormachtstellung in Europa und in der Welt behaupten. Vor diesem Hintergrund, der mit den Weltkriegen folgenden Geschichte, dem Rassenwahn, der Ermordung von Millionen von Menschen durch die Deutschen, erstaunt es schon sehr, wenn man heute in Texten und Abbildungen wieder auf das Bild Russlands als eines zu zivilisierenden Nachbarn stößt.

Damals wie heute beteiligen sich an diesen Zuschreibungen auch Männer, die auf Männer stehen. In den 1920er Jahren etwa bediente Adolf Brand in der schwulen Zeitschrift Der Eigene unverhohlen nationalistische Klischees und wandte sich gegen die ‚Weimarer Toleranz‘. Lieber als das von Magnus Hirschfeld gezeichnete Bild geschlechtlicher Zwischenstufen war ihm der ‚kernige‘, ‚arische‘ Mann. Heute sind es ebenso vielfach deutsche Schwule, die die plumpesten und dümmsten Vorurteile über Russland schüren – und dabei ebenso insbesondere deutsche Interessen verfolgen.

Denn würde es in den aktuellen Auseinandersetzungen um die Interessen russischer Schwuler und Lesben gehen, dann müssten einige Grundfesten gesetzt sein: Es wäre dann klar, dass sie den Ton und die Richtung des Streitens angeben müssten. Gesetze in Russland gegen Lesben und Schwule und dortige rechtsradikale Übergriffe treffen schließlich sie. Sie sind in Gefahr, während Vertreter des deutschen schwulen Establishments, die am Berliner Potsdamer Platz medienwirksam Fackeln anzünden, keinerlei Gefahr ausgesetzt sind, sondern nach der Aktion sich zu Hause auf ihr Sofa setzen. Letztere beteiligen sich mit solch plakativen Aktionen nur an der deutschen Großerzählung, dass Deutschland emanzipatorisch geworden sei und lenken ab von den rechtsradikalen Übergriffen in Deutschland und auch von den rassistischen und transphoben Übergriffen in der schwulen Szene selbst. Bei der „No Compact!“-Konferenz in Leipzig drückte es ein Vertreter russischer lesbisch-schwuler Selbstorganisationen deutlich aus: „Das Beste was ihr tun könnt, macht eure eigenen Hausaufgaben.“

Also: Russische Lesben und Schwule müssen die Richtung des Streitens angeben. Eine Unterstützung aus Deutschland muss sich davor hüten, dominant zu werden. Gleichzeitig gilt es, die postkolonialen Kritiken unter anderem von Gayatri Chakravorty Spivak zu verstehen: Sie macht an verschiedenen Beispielen deutlich, wie durch westliches Einmischen und westliche Zuschreibungen die Menschen, die eigentlich von bestimmten Restriktionen und Gewalt betroffen sind, zum Schweigen gebracht werden. Gerade durch das westliche Selbstverständnis eigener ‚Zivilisiertheit‘ und die entsprechenden Interventionen mit erhobenem Zeigefinger (wenn nicht gleich mit Panzern), und auch vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Kriegen, bestärken diese Interventionen konservative Sichtweisen. In Russland wird die Berechtigung von Spivaks kritischer Sicht deutlich: Präsident Wladimir Putin setzte das Gesetz gegen die öffentliche Werbung für Homosexualität insbesondere mit solcher Argumentation durch, dass man sich vom Westen nichts vorschreiben lassen wolle und es gar nicht um die Interessen von Russ_innen gehe, sondern um solche – wie er sich ausdrückte – ‚westlicher Agenten‘. Hier sucht und findet er den Schulterschluss mit konservativen und nationalistischen Kräften in Russland.

In diesem Sinne trägt die Thematisierung und Instrumentalisierung von Homosexualität in Russland aber einen ähnlichen Charakter, wie man es auch andernorts feststellen kann. Es wird von inneren ökonomischen Schwierigkeiten (viele Menschen sind arm) abgelenkt und eine nationale Idee propagiert. Es ist interessant, wie die Thematisierung von Homosexualität auffällig oft parallel zu weitreichenden politischen Entscheidungen in Ländern geschieht. So wurde in Frankreich im vergangenen Jahr der Kriegseinsatz in Mali durchgesetzt, was aber in der öffentlichen Wahrnehmung unterging, weil alle sich über die Öffnung der Ehe und das Adoptionsrecht für Homosexuelle stritten. In Deutschland war es Ende der 1990er / Anfang der 2000er Jahre ebenso: Während intensiv über das neue Sondergesetz für Lesben und Schwule, die ‚Homo-Ehe‘, diskutiert wurde, konnte die Neubestimmung Deutschlands als militärische Weltmacht – unter anderem mit dem Krieg gegen Afghanistan – durchgesetzt werden.

Warum lassen sich Schwule so für nationale deutsche Interessen instrumentalisieren, wo es doch seit den Anfängen der so genannten Schwulenbewegung darum ging, sich gegen Herrschaft und Unterdrückung, gegen den repressiven deutschen Staat aufzulehnen? Ein Umdenken ist erforderlich. Konkret bedeutet dies für die Unterstützung russischer Lesben und Schwuler:

– Russische Lesben und Schwule müssen die Richtung und die Aktionsformen angeben; Deutsche müssen stets die eigene Position reflektieren und im Blick haben, wann eine Unterstützung umschlägt und nur noch der eigenen Selbsterhöhung dient.

– Medienbeiträge in Deutschland helfen erst einmal russischen Lesben und Schwulen nicht – sie dienen eben im Wesentlichen einer Selbsterhöhung der Deutschen (‚ach, wir sind ja so emanzipatorisch…‘). Wenn berichtet werden soll, ist stets der postkoloniale Hintergrund zu beleuchten und sollten Interviews (offen, nicht gerichtet) mit Russ_innen erfolgen

BUCHEMPFEHLUNG: „Wer Macht Demo_kratie?“

Der folgende Band sei sehr empfohlen – ich hatte bereits Gelegenheit gründlicher hineinzusehen. Darin findet sich unter anderem der exzellente Beitrag „Pink Washing Germany? Der deutsche Homonationalismus und die «jüdische Karte»“ (von Koray Yılmaz-Günay und Salih Alexander Wolter)!

Duygu Gürsel, Zülfukar Çetin & Allmende e.V. (Hg.)
Wer Macht Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen
256 Seiten, 16.80 Euro
ISBN 978-3-942885-34-8
Link: http://www.edition-assemblage.de/wer-macht-demo_kratie/

kritik_praxis-band1_COVER_V1.indd

Klappentext:
Wer MACHT Demo_kratie? lautet die zentrale Frage des Sammelbandes.
Die Autor_innen setzen sich in ihren Beiträgen u.a. mit Migrations- und Flüchtlingspolitiken, Demokratie, Kapitalismus, Rassismus, Homonationalismus, Kolonialismus, Feminismus, sozialen Kämpfen und migrationsbezogener Sozialer Arbeit auseinander.
Sozialwissenschaftler_innen, Aktivist_innen und andere politischen Akteur_innen kommen hier zu Wort und bringen Alternativen für politisch-wissenschaftliche Auseinandersetzungen zum Ausdruck.
Das Buch ist ein Versuch, kritische Gesellschaftstheorie und Praxis vereinbar zu machen, und möchte weitere Projekte dieser Art anregen.

Die Herausgeber_innen:
Duygu Gürsel: Doktorandin an der HU-Berlin. Promoviert zum Thema Prekarisierung, Migration und Affekte und aktiv bei Allmende e.V.

Zülfukar Çetin: Antidiskriminierungsberater bei der Opferperspektive e.V. in Potsdam, arbeitet zu kritischer Migrations- und Queer Theorie und engagiert sich bei Allmende e.V. und Türkischem Bund Berlin Brandenburg.

Ebenfalls empfehlenswert:
Buch „Homophobie und Islamophobie“
Buch „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre ‚Muslime versus Schwule'“
Buch „Ali und Ramazan“

Fest für ein Deserteursdenkmal in Hamburg – 1. bis 4. Mai

Das aus 22 Gruppen bestehende “Bündnis für ein Hamburger Deserteursdenkmal” lädt wie jedes Jahr zum Klotzfest. Rings um den sogenannten Kriegsklotz in der Nähe des Bahnhofs Dammtor werden vom 1.5. bis zum 4.5. Künstler_innen, Autor_innen und Aktive sich dem Thema Desertion widmen. Es lohnt auf jeden Fall vorbeizuschauen: Auf www.feindbeguenstigung.de findet sich ein umfangreiches Programm.

::: Heraus zum Transgenialen CSD am 23. Juni 2012 in Berlin :::

Der CSD ist ein weltweiter Gedenk-, Fest- und Demonstrationstag von und für schwule, lesbische, bi-, trans-, und intersexuelle Menschen sowie andere ausgegrenzte sexuelle Identitäten. Der Berliner Transgeniale CSD (TCSD) ist eine seit 1998 jährlich Ende Juni stattfindende Demonstration, die sich als politische Alternative zum kommerziellen Christopher Street Day versteht, der meist parallel stattfindet. Der TCSD richtet sich gegen die Diskriminierung und Ausgrenzung von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transgendern und intergeschlechtlichen Menschen. Zugleich greift der TCSD das Prinzip der Heteronormativität – ein unhinterfragtes, ausschließlich zweiteiliges Geschlechtssystem – an, das in allen Teilen der Gesellschaft verbreitet ist und soziale, emotionale und kulturelle Standards hervorbringt, die Ausgrenzung bewirken. Immer thematisiert der TCSD aktuelle politische Entwicklungen. Der TCSD positioniert sich klar gegen Rassismus, Neonazismus, Gentrifizierung, staatliche Abschiebungen, prekäre Arbeitsbedingungen und soziale Ausgrenzung.

Benannt ist der CSD nach der ersten bekannt gewordene Gegenwehr in großem Umfang von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten in der New Yorker Christopher Street im Stadtviertel Greenwich Village. In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 fand in der Bar „Stonewall Inn“ der sogenannte Stonewall-Aufstand statt. Es kam in der Folge zu tagelangen Straßenschlachten zwischen Schwulen und Lesben sowie der Polizei. Zum Gedenken an diese Ereignisse, aber auch, um für gesellschaftliche Veränderungen und gegen Diskriminierung zu protestieren, erfolgen seither jährlich weltweit Demonstrationen. Der TCSD sieht sich in dieser politischen Tradition. Anpassung, Kommerzialisierung, (Homo)nationalismus und Pathologisierung von trans- und intergeschlechtlichen Menschen sind nach wie vor Grund genug für Widerstand und den Versuch, Gegenmacht zu entfalten angesichts institutioneller und alltäglicher Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt hier und weltweit.

Doch gerade hier in Deutschland, wo die rigide Bekämpfung von Homosexualität während des Nationalsozialismus ihre tiefen Spuren hinterlassen hat, wo Homophobie und die Ausgrenzung von Minderheiten allgemein eine lange Tradition haben und auch die politische Linke nicht „frei“ davon ist, wo sich nicht zuletzt auch Minderheiten oft gegeneinander ausspielen lassen, ist es notwendig, solidarisch für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung einzutreten. Die Gesellschaft verändern und nicht in ihr „ankommen“! Für eine antikapitalistische Perspektive!

::: Transgenialer CSD ::: 23.06.2012 ::: 13 Uhr, Elsenstraße/Am Treptower Park (vorm Treptower Park Center) ::: 18 Uhr: Abschlusskundgebung am Heinrichplatz: Bühne mit Redebeiträgen, Performances, Musik und Infoständen :::

 

Mehr Infos auf der Internetpräsenz des TCSD: https://transgenialercsd.wordpress.com/

AG Schwule in der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin [SCHWARAB!]

(Der Text entspricht der Mitteilung der Initiative gegen Rechts)