Queere Bestandsaufnahme

Queer-zum-StaatRezension von: Helga Haberle, Katharina Hajek, Gundula Ludwig, Sara Paloni (Hrsg.): Queer zum Staat: Heteronormativitätskritische Perspektiven auf Staat, Macht und Gesellschaft. Berlin: Querverlag (2012, 227 Seiten, broschiert, 14,90 EUR). Zuerst veröffentlicht in den Rosigen Zeiten (www.rosige-zeiten.net).

 

Die aktuellen kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse sind durch eine Flexibilisierung und Individualisierung der Lebensbereiche gekennzeichnet. Insbesondere bzgl. Geschlecht und Sexualität werden die Veränderungen von Menschen als konkrete Befreiungen erlebt: So ist gleichgeschlechtliches sexuelles Tun nicht mehr strafbar. Dem „alten patriarchalen Modell [wurden] Rechte und Freiheiten abgerungen“ (Wagenknecht 2005) – dafür waren konkrete Kämpfe von Menschen nötig, insbesondere der Frauen-/Lesbenbewegung. Gleichzeitig zeigt sich, dass durch diese Veränderungen die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht erschüttert wird. Vielmehr können die flexibilisierten und individualisierten Individuen zum aktuellen Entwicklungsstand des Kapitalismus sogar noch intensiver ausgebeutet werden. Es bleibt dem Kapitalismus damit nicht einfach „völlig äußerlich“, was die Individuen tun, wie Volkmar Sigusch in „Neosexualitäten“ (2005) vermutete, sondern die derzeitige Aktualisierung ermöglicht es, „individuelle Kreativität auszubeuten“, „kollektive Widerstände zu verhindern“ und sie bedeutet, die „Verwandlung von allem und jedem in Waren, einschließlich der menschlichen Sinnlichkeit“ (Wagenknecht 2005). Anknüpfend an Leo Kofler lässt sich weiter festhalten, dass die aktualisierten kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse „erotische – und das heißt hier vornehmlich sexuelle – Freiheit versprech[en] und formell auch gewähr[en], aber allein zu dem Zweck, um das Individuum über die psychischen Prozesse der Verinnerlichung und der Identifikation um so stärker an die repressive Ordnung zu fesseln, damit der bestehenden Unterdrückung Dauer zu verleihen.“ (Kofler 1985)

Vor dem Hintergrund der Diagnose, dass gesellschaftliche Kämpfe gut in Herrschaftsverhältnisse integrierbar sind, finden aktuell emanzipatorische Positionsbestimmungen statt. „Que[e]r zum Staat: Heteronormativitätskritische Perspektiven auf Staat, Macht und Gesellschaft“ ist eine solche, die insbesondere eine Analyse der Veränderungen bezogen auf Staatstheorien anbietet. Die Autor_innen des Sammelbandes gehen hierbei von Beschreibungen aus, dass die Europäische Union „toleranter“ werde, insbesondere bezogen auf geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung. Dabei führt Volker Woltersdorff sehr richtig an, dass diese hegemoniale Durchsetzung von „Toleranz“ zwischen „innen“ und „außen“ unterscheidet, mit „Instrumenten wie Green Card oder Frontex“ werde etwa zwischen „erwünschten und unerwünschten Arbeitssubjekten“ unterschieden (S. 129), also Rassismus mit vielen Toten staatlich durchgesetzt.

Neben dieser Andeutung der Notwendigkeit intersektionalen Denkens – im Band ist sie nur knapp angerissen –, wird im Buch insbesondere untersucht, wie Menschen in den aktuellen Verhältnissen regierbar (gemacht) werden. Mit Bezug zu Antonio Gramsci hebt Gundula Ludwig in ihrem exzellenten Beitrag hervor, dass die „Integration von Kritik als Voraussetzung für die langfristige Aufrechterhaltung von Hegemonie“ anzusehen ist (S. 105) Der Bezug zu Gramsci wird im Band verschiedentlich fruchtbar gemacht – so deutet sich an, welches Potenzial in diesem Bezug steckt, Hegemonie verstehen zu können und ein neues Staatsverständnis zu entwickeln, dass nicht mehr einem „Staat“ eine davon vermeintlich unabhängige „Zivilgesellschaft“ entgegenstellt. Wichtig wird es sein, mit Gramscis Arbeiten weiter zu arbeiten, dabei stets im Blick, dass er nicht auf einer Couch in einem Wohnzimmer schrieb, sondern als Kommunist_innenführer in faschistischer Kerkerhaft.

Gundula Ludwigs Beitrag ist aber auch auf andere Weise hervorragend und hoch aktuell. So stellt sie im Anschluss an Michel Foucault heraus, wie Menschen durch das „Versprechen[] von Freiheit und Souveränität“ (S. 105) erst regierbar gemacht werden – und sie fasst klar den eindeutigen körperlichen Bezug: „Damit die Subjekte als freie und souveräne regiert werden können, ist eine diskursive Bewegung im Verständnis des Körpers, das sich mit der Moderne durchsetzt, entscheidend: Nur wenn die Subjekte lernen, einen ‚eigenen‘ Körper zu besitzen, können diese als freie und souveräne regiert werden, da dieses Besitzverhältnis über den Körper zur Grundlage von Freiheit und Souveränität wird“ (S. 105f). Die „Konstruktion des Körpers“ müsse „als ‚grundlegendste Form des Eigentums‘“ (S. 106) angesehen werden.

Diese Feststellung ist nicht zu unterschätzen, kann sie doch einen (weiteren) Zugang dazu darstellen, warum in der aktuellen Gesellschaft dualistische Konzepte bestimmend sind, während marxistisch-materialistische Konzepte in den Hintergrund geraten. Die Praxisrelevanz dieser problematischen Dominanz dualistischer Konzepte machten zuletzt Salih Alexander Wolter und Zülfukar Çetin in ihrem Beitrag in „Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte““ ganz Praxisbezogen klar. Bei der Debatte um die Vorhautbeschneidung wurde nämlich deutlich, wie ein „unversehrter Körper“ vorausgesetzt wird. Dabei ist ein Mensch niemals von Gesellschaft „unversehrt“, wird er doch durch Menschen ernährt, lernt den aufrechten Gang, lernt Sprache, wird medizinischen Behandlungen unterzogen – jeweils mit psychischen und physischen Auswirkungen. Ein unreflektiertes Denken, kann also kurzsichtige rassistische Debatten begünstigen. „Toleranz“ der einen (geschlechtliche und sexuelle „Toleranz“) und daran anschließend ein laxes Sprechen von kurz gedachter „körperlicher Unversehrtheit“ wird so zur rassistischen Keule, die jüdisches und muslimisches Leben in der Bundesrepublik Deutschland hätte unmöglich machen können und es gar unmöglich machen sollte (wie einige wollten).

„Que[e]r zum Staat“ unternimmt eine Bestandsaufnahme und geht punktuell – wie im Beitrag von Ludwig – darüber hinaus. Das Buch ist von daher zur Lektüre zu empfehlen. Allerdings solltest Du und sollten Sie bei der Lektüre nicht stehen bleiben, sondern auf den Anregungen aufbauend weiterdenken. Dafür gilt es aus marxistischer Sicht mit Karl Marx an die konkreten Lebensweisen der Menschen anzuschließen, anstatt den Menschen immer erklären zu wollen, dass sie falsch lebten. Es gilt vielfältiges und individuell orientiertes Leben als Ausgangspunkt für neue Analysen zu setzen, schließlich werden sie als Zugewinn an Möglichkeiten erlebt und wurden sie auch zumindest teilweise erkämpft. Gleichzeitig gilt es in den Blick zu bekommen, wie gerade auf Basis dieser „Errungenschaften“ aktuelle – rassistische – Ausschlüsse produziert und imperialistische Kriege begründet werden. Denken reicht in der jetzigen Konstellation leider nicht mehr aus, wir benötigen linkes und emanzipatorisches Wissen, das die aktuellen Herrschaftsverhältnisse versteht und Lösungen entwickelt, mit Praxisrelevanz.

 

Kofler, Leo (1985): Eros, Ästhetik, Politik – Thesen zum Menschenbild bei Marx. In: Friauf, Heike (Hrsg., 2008): Eros und Politik – Wider die Entfremdung des Menschen. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Sigusch, Volkmar (2005): Neosexualitäten: Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt/Main: Campus.

Wagenknecht, Nancy Peter (2005): Formverhältnisse des Sexuellen. Phase 2, 18.

Wolter, Salih Alexander; Çetin, Zülfukar (2012): Fortsetzung einer „Zivilisierungsmission“: Zur deutschen Beschneidungsdebatte. In: Wolter, Salih Alexander; Çetin, Zülfukar; Voß, Heinz-Jürgen (Hrsg.): Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“. Münster: Assemblage.

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