Pfeifende Dächer. Ein persönlicher Bericht

(von Heinz-Jürgen Voß, erschienen in „Rosige Zeiten“, Juni/Juli 2009)
Gestern Morgen war es
Als ich Dich hörte
Als ich hörte, daß ich Dich liebe
Es pfiffen die Spatzen vom Dach
Weil es doch ungewöhnlich ist
Daß ich Dich liebe
Und nicht eine Andere
Die ich lieben dürfte
Ohne pfeifende Dächer
Weil Sie sich fühlten
Weil Sie mich fremd fühlten

Informationen – Informationen – Informationen stürzen auf mich ein. Ich gewinne fast den Eindruck, dass es da gar nichts anderes mehr gibt. Man nimmt sich eine Zeitschrift hervor und liest sogleich über Krise, über Wirtschaft, über Staat, über Attentate, Amokläufe.

Meine schwule Szene als Zuflucht fällt aus. In einem Gangbang wurde dort einer durchgenommen. Niemand merkte, als er schon tot war.
Ein anderer, schön tief gefistet, ihm ging es auf einmal schlecht, er musste sich übergeben. Er wurde liegengelassen und bei einem anderen weitergemacht, mit Fisten. Immerhin. Etwas später fand man ihn, halb tot, brachte ihn ins Krankenhaus. Eine Tunte hatte ihn gefunden. Tunten sind die letzten verbliebenen Menschen in einer solchen Szene, denke ich für einen Moment.

A. Merkel ruft wieder zum Durchhalten auf. Hintergrund ist eine Krise, die nach und nach uns alle erfassen soll. Einsatz wird Menschen abverlangt, allen Menschen, oder doch nur den Armen. Wir sollen für ‚unsere Wirtschaft‘ Dinge in Kauf nehmen, wir sollen Verständnis für Einschnitte ‚unseres Staates‘ haben. Verständnis. Für wen bitte, für ‚Staat‘?

Ein Amoklauf. Viele Tote. Ein Schüler, von seinen Mitschülern nicht selten drangsaliert, nimmt eine Waffe und erschießt 17 Menschen. Mir fallen die Hintergründe auf. Irgendwie kommt es nie in ‚unserem Land‘ vor, dass ein Migrant auf die Idee kommt, Amok zu laufen – und das obwohl Migranten immer als Problemgruppe beschrieben werden. Vielmehr scheinen Kinder aus engen, provinziellen Kaffs, mit ‚gutem Elternhaus‘ und Fingernagelschere geschnittenem Rasen auf diese Idee zu kommen. Verständnis. Wenn, dann hier bitte. Für die vielen toten Menschen. Und für den Jungen, der schon in diesem Alter keinen anderen Ausweg mehr sah.

70 Tote, 30 Tote. Die Liste geht immer weiter. Ich denke an die Einzelne. Was hatte sie gerade noch vor. Sie war gerade einkaufen. Vielleicht wollte sie danach zu einer Freundin. Und kam nie dort an. Vielleicht hatte sie das letzte Geld für heute zusammengenommen und wollte das Nötigste kaufen. Lächelte sie gerade? Hatte sie noch Gelegenheit, das sich der Schrecken auf ihrem Gesicht abzeichnen konnte? Besser nicht, denke ich und fühle mich mit dieser Antwort unzufrieden. Verständnis. Mir zerrt sich alles zusammen. Wie kann man auf die Idee kommen, für ’seinen Staat‘, ’sein Gottesverständnis‘, dafür das Besatzer gehen zu bomben, das noch in der Gewissheit selber zu sterben?

Ein lieber Freund hat mir aus dem Katechismus des Papstes vorgelesen, gleich nachdem wir in der Bibel von der ‚großen Hure‘ gelesen hatten. Während ich auf seine Lippen schaue, Aufmerksamkeit auf sein Lachen verwende, höre ich die Worte. Meint er das ernst? …alle Menschen verbrennen…; Zungen abschneiden…; dann mit riesengroßen Eiswürfeln bewerfen. Ich tue es damit ab, dass die Bibel vor einigen Tausend Jahren geschrieben wurde. Und höre aufmerksamer auf den Katechismus, immerhin erst wenige Jahre alt. Aber auch da: Masturbation – ganz schlimm, außerehelicher Sex – auch schlimm, aller Sex außer der zwischen Ehefrau und Ehemann – oh mein Gott. Das dachte man sich schon, wenn auch nicht ganz so engstirnig. Über andere Stellen bin ich entsetzt. Über solche, in denen Juden missioniert werden sollen, es ‚ihr Volk‘ nach der christlichen Mission nicht mehr gebe. Ich denke, ich höre nicht recht. Hat der den Holocaust nicht mitbekommen, der Mann, der Papst? Ich wende mich wieder den Bewegungen der Lippen meines Freundes zu und versuche andere Gedanken zu finden.

Und doch sammelt sich das an. Warum reden und schreiben so viele über tot, warum machen so viele Menschen tot? Alle irgendwie auf ihre Weise, weil sie die Bedingungen nicht mehr ertragen. Oder weil Menschen nicht das nötigste Einfühlungsvermögen für einen anderen Menschen einbringen, wie in den obigen Eindrücken der schwulen Szene.
Warum sollte eine Wirtschaft, ein Staat ‚meine‘ sein? Warum sollte ich mich für das provinzielle Kaff und die dort herrschenden einengenden Regeln einsetzen? Verständnis, das passt doch hier nicht.
Viel näher erscheinen mir da die Menschen – nein, nicht ‚die Menschen‘, eigentlich genau Du und Du und Du und Du, und ach ja Ich. Warum frage Ich nicht einfach nach Bedürfnissen? Warum lerne Ich nicht selbst – und vielleicht auch Du – eigentliche Bedürfnisse zu formulieren, z.B. das wir uns nahe sind, dass Du meinen Geruch magst, dass Ich gerne Deine Zunge an und in mir spüre. Dass Du gerne Tee trinkst, knisterndes Papier magst, gerne Zügen und den Menschen in ihnen zusiehst. Dass es uns wichtig ist, dass es nicht so weit bis zum nächsten Tante-Emma-Laden ist, damit wir dann ankommen, wo wir hinwollen. Dass – wenn schon Erwerbsarbeit – diese nicht so weit weg ist, damit wir länger auf einer Wiese liegen können.

Nicht dass Du mich jetzt falsch verstehst. Gesellschaftliches Zusammenleben ist wichtig – je genau: Du und Du und Du, und Ich – und dies zu gestalten auch. Dafür sollte man sich auch in einer Gesellschaft engagieren.
Aber doch nicht in Kategorien, nicht in Institutionen. Warum muss ich gleich, nur weil ich mit Dir oder Dir im Bett bin, hetero- oder homosexuell sein? Warum sollte ich an eine ‚Wirtschaft‘ Gedanken verschwenden, die Löhne kürzt, um Wachstum zu stärken, anstatt sich daran zu orientieren, was Du und Ich benötigen, eine Wirtschaft in der auch Unfälle, Beerdigungen, Tod in die Steigerung einer Zahl, das Bruttosozialprodukt, eingehen. Warum sollte ich überhaupt an ‚Wirtschaft‘ Gedanken verschwenden?
Wahrscheinlich hatte Karl Marx recht, dass unsere eigentlichen Bedürfnisse durch etwas Vorgespieltes, durch Waren, Kategorien, Institutionen vernebelt sind, dass wir gar nicht mehr anders Denken können, als in Geschlecht, in homo, hetero, in Auto, Shopping-Mals, Wirtschaft, Staat…
Aber auch das ist mir zu abgedroschen und ich wende mich wieder Dir zu, küsse und umarme Dich, höre Dir gebannt zu, fühle Dich und mit Dir – und wir spinnen von einer Welt, die Uns, Meine und Deine Bedürfnisse ernst nimmt und nehmen Uns vor, das nachher gleich weiterzusagen…

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