Per Olov Enquist: Gestürzter Engel

„An den Abenden konnte man sie in ihrem Bett sitzen sehen, der Deckel der Hutschachtel war abgenommen, aber sein Kopf immernoch in der Schachtel, sie unterhielt sich leise und aufrichtig mit ihm, doch manchmal erregte sie sich und überhäufte ihn mit Vorwürfen und Beschimpfungen; es gab Gelegenheiten, da fand sie sein Verhalten unentschuldbar und schlug den Deckel der Hutschachtel zu und stopfte die Schachtel ganz oben in den Kleiderschrank und drohte heftig fluchend damit, ihn nie mehr hervorzuholen.“

„Acht mal hatte er versucht, Selbstmord zu begehen, bevor es ihm glückte. Er hielt ihnen seine Selbstmordversuche gewissermaßen entgegen, nicht um gerettet zu werden, wie es üblich ist, sondern als ein Angebot. Alle Versuche sehr ungeschickt, fast komisch. Beim ersten Mal hatte er seine Armbanduhr genommen, das Armband benutzt, genauer gesagt den kleinen Stahlbolzen, den man in die Löcher steckt, und damit versucht, ein Loch in eine Ader zu stechen. Er hatte gegraben und gegraben und mit dem stupfen kleinen Bolzen ein Loch zustandegebracht, durch das nur wenig blut fließen konnte; ein lächerlicher Versuch.“

„Sie hatte Pinons und Marias Kopf genommen, an den Hals gesetzt, und dann ganz einfach zu nähen angefangen.
Es hatte fast eine halbe Stunde gedauert. Langsam und unter großer Mühe hatte sie den Kopf mit Hilfe der Stopfnadel, die sie zu einem Haken gebogen hatte, am Rumpf befestigt. Zum Schluß hatte sie gefunden, daß es ganz gut wurde. Um den Hals herum zog sich eine Zickzacklinie, die etwas eigenartig aussah, aber der Kopf saß fest, und wenn sie eine Mullbinde um den Hals legte, konnte ja niemand etwas sehen.“

Drei außergewöhnliche Liebesgeschichten. Oder gar noch mehr? Per Olov Enquist führt mit seinem Roman, der mit überschaubaren 111 Seiten und einem ansprechenden wenn auch uns bisher vielleicht weniger geläufigen Sprachstil aufwartet, in eine uns unvertraute Thematik ein. ‚Liebe’ kennen wir oder wissen zumindest was das Wort bedeuten soll – aber eine aufopfernde Liebe, Liebe zwischen zwei oder auch mehr Personen in meinem Körper? Liebe zu einem Menschen, der mir und meinen Lieben so viel Greuel angetan hat?

Da ist Ruth B. mit ihrem Brecht, der nun gefangen in einer Hutschachtel lebt. Zu den Zeiten, als sich Brecht noch außerhalb bewegen konnte, war allein sie und der Hund es, die Brecht richtig vertsanden. Die anderen hätten nur Rollen haben wollen… Oder: Pinot und Maria. Beide sind untrennbar miteinander verbunden aber bis sie verstehen, dass sie sich lieben, vergehen Jahre. Ja ehemals in der Grube in Mexiko, eingesperrt von den Grubenarbeitern, gab es sogar Zeiten, in denen Pinot Maria hasste. Weil sie sang, unentwegt sang und er von ihr nicht loskommen konnte. Das wiederholte sich, als Pinot sich in Ann verliebte… Maria sang und Pinot wollte sich töten. Danach hatten beide verstanden und fanden einen Umgang in Liebe miteinander. Oder: K’s Frau – wir erfahren viel über sie, ihren Namen jedoch nicht – in ihrer, ja man wird es wohl auch Liebe nennen können, Liebe zu einem Jungen, zu einem Mörder; der sein Gesicht nicht mehr sehen mag und es dennoch wieder tut: morden. K’s Frau und K sind geschieden. Auch sie lieben sich, anders.

Per Olov Enquist fordert uns mit seinem Buch heraus. Einerseits gilt es, dass sich langsam schließende Puzzle im geistigen Auge zusammenzusetzen. Andererseits stellt Per Olov Enquist Anforderungen an unser Verständnis von Zuneigung und Liebe und deren Ausdrucksweisen. Per Olov Enquist fordert uns heraus Lieben von Menschen zu teilen, die wir sonst nicht einmal wahrnehmen (und die doch Tatsachenberichten entspringen) und die wir aus niederen Beweggründen nicht wahrnehmen wollen. Per Olov Enquist beschreibt Mitgefühl zu Menschen, die es in unserer Gesellschaft zunehmend nicht mehr erhalten oder auch nie erhalten hätten, obgleich sie es ebenso verdienten – in einer Gesellschaft, in der sich Menschen humanistisch anderen Menschen annähern und nicht an Stammtischen oder auch in der hohen Politik deren genetische Auslese oder Lynchen fordern…

Ein Buch, so kurz und so empfehlenswert für einen entspannten Abend, an dem mensch sich Zeit und Lust zum Mitdenken lässt.

heinzi
Per Olov Enquist
Gestürzter Engel
Erschienen in deutscher Übersetzung aus dem Schwedischen im Fischer Taschenbuch Verlag.
ISBN 3-596-15742-0
Auf Onlineplattformen für Gebrauchtbücher ist das Buch ab 3 € erhältlich, als neues Buch im Handel für 7,90 €.

 

geschrieben von Heinz-Jürgen Voß

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