Karl Heinrich Ulrichs „Der erste Schwule der Weltgeschichte“

(von Heinz-Jürgen Voß, in gekürzter Fassung erstveröffentlicht in „Die Lupe“ (Juni/Juli 2011), Zeitschrift von Die.Linke, Bezirksverband Berlin Tempelhof-Schöneberg. Die vollständige Ausgabe findet sich hier.)

 

Was uns heute als so offensichtlich erscheint, dass man entweder zu einem gewissen Zeitpunkt sein „Coming out“ als homosexuell oder bisexuell hat oder sich ansonsten quasi selbstverständlich als heterosexuell verortet, ist in der Geschichte noch nicht alt. Erst im 19. Jahrhundert (erste Indizien dafür gab es schon etwas früher) kamen solche Identitätsformen auf, mit denen Menschen bereits von Geburt an, oder auf Grund früher Erfahrungen, „schwul“, „lesbisch“ oder „einfach heterosexuell“ seien, weitere Merkmale sollten sich anschließen – so ein gewisser Lebensstil, bestimmte Charaktermerkmale und Verhaltensweisen. Kennzeichnend war für solche Betrachtungen, dass „Homosexuelle“ als „anders“ und „unnormal“, ja sogar als „krank“, neben vermeintlich „normal“-Begehrende gestellt wurden. (Vgl. Klauda 2008.) Erst 1992 wurde Homosexualität aus dem Katalog der Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestrichen.
Zuvor war es gewiss auch nicht rosig – wegen gleichgeschlechtlichem Sex (und auch für andere „Delikte“ wie Sex mit Tieren) konnte man mit Verweis auf Sodomie-Paragrafen verurteilt werden, mit harten Strafen, bis hin zum Tod. Allerdings knüpfte sich eben keine starre Identität an den getätigten sexuellen Akt – „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (Foucault nach: Klauda 2008: S.10f)
Hier kommt Karl Heinrich Ulrichs, eine bemerkenswerte und für emanzipatorisches sexualreformerisches Streiten äußerst wichtige Persönlichkeit, ins Spiel. 1825 geboren und aufgewachsen in einer bürgerlichen Familie, studierte Ulrichs Juristerei in Göttingen und Berlin und war anschließend einige Jahre im Justiz- und Verwaltungsdienst des Königreichs Hannover angestellt. 1854 musste Ulrichs diesen Dienst quittieren, um einem Verfahren wegen „unzüchtiger Wollust“ zuvorzukommen. Seitdem publizierte Ulrichs und engagierte er sich politisch. Ulrichs starb 1895. (Vgl. Sigusch 2000.) Interessant ist Ulrichs einerseits deshalb, weil er sich in der oben umrissenen Zeit sexualreformerisch engagierte, als der Umschwung von dem (sodomitischen) sexuellen Akt zur zu diagnostizierenden lebenslangen Homosexualität erfolgte. Er wandte sich dabei gegen die Perspektive, dass gleichgeschlechtlicher Sex etwas „Anderes“, „Krankes“, „Unnormales“ wäre und führte auf geistesgeschichtlicher und auf naturwissenschaftlicher Basis aus, dass gleichgeschlechtlicher Sex ebenso „natürlich“ sei, wie anderer. Das zu einer Zeit, in der der Paragraf zur Verfolgung und Bestrafung homosexueller Handlungen unter Männern des Königreiches Preußen auf das gesamte Territorium des entstehenden Deutschen Reiches ausgedehnt wurde. Und Ulrichs erwies sich auch in anderen Bereichen als gegenüber dem „Zeitgeist“ sehr immun, so urteilt Volkmar Sigusch in seiner Ulrichs-Biografie: „Wer Leben und Werk [von Ulrichs] studiert, wird immer wieder vom Grad seiner kulturellen und politischen Modernität beeindruckt sein, die oft hinsichtlich Freisinn und Menschenrecht den Geist des 19. Jahrhunderts weit hinter sich läßt. So war für ihn selbstverständlich, daß alle Menschen, ob nun Juden, Katholiken oder Urninge [im Sinne: Homosexuelle, Anm. HV], mit der gleichen Würde ausgestattet sind und dieselben Rechte zu beanspruchen haben. Es scheint so, als wäre er gegen die psychopolitischen Übel seines Jahrhunderts, Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus usw., gefeit gewesen. Kam er auf die Völker Europas zu sprechen, auf das, was sie trennt und eint, glaubt man – im heutigen Sinne – einen Europäer der ersten Stunde zu hören.“ (S.5f)
Ulrichs setzte sich dafür ein, dass Menschen ihr Leben selbst bestimmen können – und seine Veröffentlichungen bieten selbst für heutige Betrachtungen noch viel Potenzial, emanzipatorisch weiterzudenken, um jeden Menschen in seinen individuellen geschlechtlichen Anteilen wahrzunehmen. In diesem Sinne ist es an der Zeit, dass neben Hannover (Karl-Heinrich-Ulrichs-Straße, 30161 Hannover) nun auch in der für Ulrichs Ausbildung und Wirken so bedeutsamen Stadt Berlin angemessen an diese bemerkenswerte Persönlichkeit erinnert wird. Ulrichs gehört zu dem durch Vielfalt geprägten Berlin-Schöneberg, gerade weil er sich – sozusagen „von der ersten Stunde“ an – gegen die Diskriminierung von Homosexuellen gewandt hat, aber auch nicht leichtfertig auf Rassismus und Antisemitismus hereinfiel. Gleiche Würde, gleiche Rechte, Miteinander leben, sich gegenseitig akzeptieren und respektieren – hierfür war Ulrichs ein Beispiel und ist er ein Vorbild für das heutige Zusammenleben.

Zum Weiterlesen:
Georg Klauda (2008): Die Vertreibung aus dem Serail – Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt. Männerschwarm, Hamburg. (16 EUR) (Rezension hier auf www.schwule-seite.de)
Volkmar Sigusch (2000): Karl Heinrich Ulrichs, Der erste Schwule der Weltgeschichte. Männerschwarm, Hamburg. (8,50 EUR)
Karl Heinrich Ulrichs (1994, hrsg. von Hubert Kennedy): Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. 4 Bände. Bibliothek Rosa Winkel, Berlin.

Initiative zur Berliner Straßenumbenennung: http://www.karl-heinrich-ulrichs.eu .

Ein Kommentar

  1. […] ähnliches. Volkmar Sigusch betitelte ein Buch zu einer Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts mit: „Der erste Schwule der Weltgeschichte“. Wenn es nun im 19. Jahrhundert den ersten Schwulen gegeben haben soll, so verweist das auf […]

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