Intersexualität: Aktuelle Entwicklungen

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst in: SINa – Sexualwissenschaftlicher Interdisziplinärer Nachwuchs, 2 (2012): 7-9.)

In den vergangenen Monaten ist Bewegung in die Debatte um die medizinische Behandlungspraxis von intergeschlechtlichen Kindern gekommen. Von den früher entsprechend dem Programm Behandelten werden die medizinischen Interventionen als gewaltvoll und traumatisierend beschrieben. Auch die wissenschaftlichen Outcome-Studien, die die anatomischen und funktionalen Behandlungsergebnisse sowie die Behandlungszufriedenheit erheben, stützen die Sicht der politisch streitenden behandelten Menschen. Zuletzt kommen Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt (2012) zum Schluss: „Insgesamt fällt eine hohe Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens auf. So litten über 60% der Teilnehmenden sowohl unter einer hohen psychischen Symptombelastung als auch unter einem beeinträchtigten Körpererleben. […] Die psychische Symptombelastung, die z.B. anhand depressiver Symptome, Angst und Misstrauen erfasst wurde, entsprach bei 61% der Befragten einem behandlungsrelevantem Leidensdruck […]. Auch hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität zeigte ein Großteil der Befragten einen hohen Belastungsgrad. […] Fast die Hälfte (47%) der Befragten, die an den Genitalien operiert wurden, berichteten sehr viel häufiger über Angst vor sexuellen Kontakten und Angst vor Verletzungen beim Geschlechtsverkehr als die nicht-intersexuelle Vergleichsgruppe“ (Schweizer et al. 2012: 196f; Übersicht über die internationalen Outcome-Studien in: Voß 2012).

Und auch der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages kommt nach seiner Sitzung im Juni zu einem eindeutigen Urteil. In der Pressemitteilung vom 25. Juni 2012 heißt es: „Operationen zur Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern stellen einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit dar und sollen zukünftig unterbunden werden. Dies war das einhellige Votum der öffentlichen Anhörung im Familienausschuss am Montagnachmittag.“ (Familienausschuss 2012)

Während der Deutsche Ethikrat in der im Februar 2012 veröffentlichten Stellungnahme „Intersexualität“ (Deutscher Ethikrat 2012) nur sehr zögerliche Ableitungen aus den Erhebungen der Behandlungszufriedenheit und den Behandlungsergebnissen zog und hierfür den aktuellen Forschungsstand nicht würdigte (er stützte sich auf zwei ältere deutschsprachige Studien, die allerdings ebenfalls erschreckend häufig schlechte Behandlungsergebnisse feststellten, und veranlasste eine eigene kleine Online-Befragung), kommen die sich informierenden politischen Entscheidungsträger/-innen zu klaren Ableitungen. Bereits in der Vergangenheit hatte sich gezeigt, dass die entscheidenden medizinischen Akteur/-innen lediglich zu kleineren Korrekturen am Behandlungsprogramm bereit sind. So wurde – wie in den Ableitungen des Ethikrates – etwa in den Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin zu „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ (engl. disorders of sex development [DSD]; seit 2005 in der Medizin verwendete Wendung für „Intersexualität“) eine bessere Information der Patient/-innen selbst und ihrer Eltern angemahnt; auch eine bessere Diagnosestellung und eine Behandlung durch explizit geschulte Fachkräfte, die mit der Diagnose Intersexualität vertraut sind, wurden eingefordert (Holterhus et al. 2007). Das in Diskussion stehende Behandlungsprogramm wurde hingegen nicht grundsätzlich in Frage gestellt, obgleich dies auf Basis der Behandlungsergebnisse erforderlich gewesen wäre. Stattdessen wich hier dann die rationale Argumentation der einer irrationalen Zukünftigkeit: Lediglich in der Vergangenheit habe es die massiven Probleme bei den medizinischen Interventionen gegeben, heute sei das nicht mehr der Fall (vgl. etwa Warne 2012). Aber dieses Argument ist alt – bereits im Jahr 2000 berichtete Michel Reiter davon beim Berliner Fachkongress der European Federation of Sexology. Heute zeigt sich, dass die Behandlungen auch im Jahr 2000 keinesfalls oder lediglich unwesentlich besser als zuvor waren. In diesem Sinne ist die Argumentation mit Zukünftigkeit eine strategische Figur – man lässt einen Teil der streitenden Positionen als nicht mehr auf der Höhe der Zeit erscheinen. Eine solche Argumentation ist schon daher fatal, da sich derzeit grundsätzlich eine Lücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und breiterer Rezeption zeigt und durch diese Positionierung gesellschaftliche Debatte als per se unmöglich ausgewiesen wird.

Nun ist die Politik am Zug. Das ist gut so, weil sich in den diskutierenden medizinischen Kreisen Abhängigkeiten von den eigenen Behandlungen zeigen. Diese Abhängigkeiten sind einerseits emotional – man ist der Meinung, den intergeschlechtlichen Kindern stets geholfen und nicht etwa geschadet zu haben; sich eigene Fehler einzugestehen, ist nicht nur in der Medizin (Stichwort: Fehlerkultur) schwer. Andererseits sind die Abhängigkeiten klar ökonomisch – die mit dem medizinischen Behandlungsprogramm verbundenen oft lebenslangen Therapien verheißen Gewinne für Kliniken und Mediziner/-innen.

Instanzen, die nicht in diesen Abhängigkeiten stehen, können zu einem offeneren Blick gelangen. Allerdings ist auch diese Offenheit schnell bedroht, wenn Intergeschlechtlichkeit lediglich durch die „medizinische Brille“ gelesen wird – das Konzept „Intersexualität“ hat einen medizinischen Ursprung – und die Datenbasis wesentlich aus der Medizin stammt. So werden selbst die Erhebungen der Behandlungsergebnisse und der Behandlungszufriedenheit oft von den gleichen Instituten oder sogar den gleichen Mediziner/-innen durchgeführt, die zuvor die Behandlungen vorgenommen hatten. Es ist daher notwendig, einen Blick gerade auf die anderen vorhandenen „Quellen“ zu werfen – etwa die der Vereinigungen intergeschlechtlicher Menschen und die der Sozialwissenschaften –, um sich eine Perspektive zu erarbeiten, die eine breit informierte Entscheidungsfindung ermöglicht. Dieser Prozess ist in Gang gekommen und sollte aus Richtung der Sexualwissenschaft weiter befördert werden.

 

Buchhinweis:

Heinz-Jürgen Voß: „Intersexualität – Intersex: Eine Intervention“

Übersicht zu erschienenen Rezensionen.

 

Deutscher Ethikrat (2012): Stellungnahme Intersexualität. Online: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf (Zugriff: 31.8.2012)

Familienausschuss (2012): Experten: Intersexualität ist keine Krankheit. Pressemitteilung des Deutschen Bundestages zur Sitzung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Anhörung) vom 25.06.2012. Online: http://www.bundestag.de/presse/hib/2012_06/2012_314/01.html (Zugriff: 31.8.2012).

Holterhus, P. M., Köhler, B., Korsch, E., Richter-Unruh, A. (2007): Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin – Störungen der Geschlechtsentwicklung. Online: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/027-022.htm (Zugriff: 31.8.2012).

Reiter, M. (2000): Medizinische Intervention als Folter. (Abdruck des Vortrags vor der European Federation of Sexology.) GiGi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, 9. Online: http://www.gigi-online.de/intervention9.html (Zugriff: 31.8.2012).

Schweizer, K., Richter-Appelt, H. (2012): Die Hamburger Studie  zur Intersexualität – Ein Überblick. In: Schweizer, K., Richter-Appelt, H. (Hrsg.): Intersexualität kontrovers – Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Voß, H.-J. (2012): Intersexualität – Intersex: Eine Intervention. Münster: Unrast-Verlag.

Warne, G. L. (2012): Fragen im Zusammenhang mit der Behandlungen von Störungen der Geschlechtsentwicklung. In: Schweizer, K., Richter-Appelt, H. (Hrsg.): Intersexualität kontrovers – Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

 

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