Intersex – zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Intersexualität“

Autor_in: Heinz-Jürgen Voß

Mit der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Intersexualität wird einmal mehr die Parteilichkeit im Diskurs deutlich. In der Stellungnahme wird nahtlos an die umstrittene medizinische Terminologie angeschlossen, in der Intersexualität oft im Sinne einer Krankheit beschrieben wird. Von Intersexen wird hingegen seit längerem gefordert unparteiisch und nicht-wertend von Varianzen beziehungsweise Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung zu sprechen. Um einer Überparteilichkeit nahe zu kommen und einen ethisch geprägten Beitrag zur Diskussion zu leisten, wäre es nötig gewesen, schon auf der Ebene der Begrifflichkeiten den Positionen der streitenden Parteien gleichberechtigt Rechnung zu tragen.

Damit nicht genug: Sind die biologischen Beschreibungen in der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates für diesen fast schon peinlich, da sie kaum über die Glaubenssätze zur Geschlechtsentwicklung in populären Zeitschriftenartikeln hinausgehen und in jedem Fall von einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme weit entfernt bleiben, so entwickelt sich diese „Laxheit“ im Umgang mit dem medizinischen Forschungsstand zum Problem. Hier werden die aktuellen Ergebnisse internationaler Fachveröffentlichungen, in denen die Behandlungen nach dem bisherigen medizinischen Behandlungsprogramm auf ihr anatomisches und funktionales Ergebnis geprüft und die Zufriedenheit der Behandelten erhoben wurden (so genannte „Outcome-Studien“), überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Seit 2010 sind hier zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, auch bereits Review-Artikel, die einen Überblick bieten. Aber in der Stellungnahme des Ethikrates werden lediglich die zwei älteren deutschsprachigen Studien aufgegriffen und wurde eine kleinere eigene Online-Befragung durchgeführt. Dabei wendet sich schon eine der deutschsprachigen Studien gar nicht der „Kernfrage“ zu, die den Ethikrat interessiert. Die Studie um Richter-Appelt erhob nicht das Outcome der Behandlungen. Stattdessen prüfte sie, ob sich bei den Behandelten eine stabile und eindeutige Geschlechtsidentität (Anm. 1) ausgeprägt hatte. 2007 – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studienergebnisse – sahen die Autorinnen um Richter-Appelt diese Ausprägung eindeutiger Geschlechtsidentität schon dann als beeinträchtigt an, wenn sich Homosexualität zeigte. Mittlerweile hat sich diese Position in der Arbeitsgruppe gewandelt. Aber selbst die interessanten neueren Ergebnisse aus dieser Arbeitsgruppe werden vom Ethikrat nicht herangezogen. Schönbucher et al. (2010) hatten eine Stichprobe von Intersexen, die operativ behandelt worden waren, mit einer anderen Stichprobe verglichen, bei der keine operative Behandlung stattgefunden hatte. Sie stellten fest, dass diejenigen, die operativ behandelt wurden, häufiger über sexuelle Probleme klagten und Unzufriedenheit mit dem Sexualleben angaben, als die, die chirurgisch unverändert geblieben waren.

Weisen aber selbst die älteren vom Ethikrat hinzugezogenen Studienergebnisse darauf hin, dass über 60 Prozent der Behandelten mit der medizinischen Behandlung unzufrieden sind, so führt das dennoch nicht zur Forderung, zunächst eine gründliche Analyse durchzuführen und zumindest bis dahin die derzeitige Behandlungspraxis auszusetzen. In einer solchen Atempause könnten auch die Anregungen von Groneberg, Werlen und Zehnder aus dem Jahr 2008 weiterentwickelt werden, die darauf gerichtet waren, statt der operativen Angleichung von Menschen an das erwartete Erscheinungsbild einer zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaft, lieber sozialpädagogische und psychologische Unterstützungsangebote zu entwickeln, die den „Betroffenen“ (besser: den betroffen gemachten Menschen) ein Leben mit ihren individuellen Besonderheiten in einer (noch) diskriminierenden Gesellschaft ermöglichen und auch das Umfeld mit der Anerkennung von Pluralität vertraut machen.

Wie diese Stellungnahme bei der zur Schau gestellten Parteilichkeit und bei den Auslassungen internationaler wissenschaftlicher Ergebnisse die Grundlage für eine kompetente Entscheidung im Bundestag sein könnte, ist fraglich. Die Abgeordneten im Bundestag, als die demokratisch Legitimierten, sollten ihrer Verantwortung auch hier wieder selbst gerecht werden, in dem sie sich selbst über die aktuelle Debatte kundig machen und die Beschäftigung mit gesellschaftlich bedeutsamen Fragen wie dieser nicht mehr auf vermeintlich unparteiische und kompetente Expertengremien übertragen.

Heinz-Jürgen Voß

 

Anmerkung 1:

zu „Geschlechtsidentität“ vgl. gut und kritisch: Dannecker, M (2012): Geschlechtsidentität und Geschlechtsidentitätsstörung. In: Eibl DG, Jarosch M, Schneider UA, Steinsiek A (Hrsg.): Innsbrucker Gender Lectures I. Innsbruck: University press.

Zitierte Literatur:

Groneberg, M, Werlen, M, Zehnder, K (2008b): Empfehlungen. Groneberg, M, Zehnder, K (Hrsg., 2008): „Intersex“ – Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes? Erfahrungen und Analysen. Freiburg: Academic Press Fribourg / Paulusverlag, S.215-223.

Schönbucher V, Schweizer K, Rustige L, Schützmann K, Brunner F, Richter-Appelt H (2010): Sexual Quality of Life of Individuals with 46,XY Disorders of Sex Development. J Sex Med. 2010 (Epub).

 

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