Geschwisterliebe

(Autor_innen: Claudius Laumanns und Heinz-Jürgen Voß; gedruckt in „Rosige Zeiten“, Oldenburg, Nr. 117)

 

Patrick S. und Susanne K. lieben sich. Sie haben 4 Kinder zusammen und wünschen sich eine gemeinsame Zukunft. Das Problem: es sind Bruder und Schwester. Obwohl sie getrennt aufgewachsen und allen Anschein nach gut für einander sind, hat sie ihr Umfeld in der Provinz eilfertig denunziert. Patrick S. sitzt wegen Inzucht (§173 StGB) im Gefängnis. Erst nach breiten Reaktionen in der Öffentlichkeit fanden sie den Mut zu ihrer Liebe zu stehen. Jüngst beschäftigte ihr Fall sogar das Bundesverfassungsgericht. Dieses bekräftigte das Verbot von Geschlechtsverkehr unter leiblichen Verwandten ausdrücklich im Namen der Familienordnung.

Die Meisten von uns würden nicht einmal auf die Idee kommen, sich in die eigenen Geschwister, die Eltern oder Großeltern zu verlieben oder sich Sex mit ihnen zu wünschen. Schließlich kennt man sich schon sehr lange und freut sich vielleicht eher Abstand gewonnen zu haben und sich ein eigenes Leben aufgebaut zu haben. Doch eine solche „Mehrheit“ findet sich in allen Aspekten menschlicher Liebe und Sexualität. Eine Mehrheit wäre ohne Minderheit nicht was sie ist oder anders: Jede Norm birgt das Potential der Abweichung in sich.

Als moralisches Verbot untersagt das Inzesttabu Sexualität innerhalb der Verwandtschaft. Es besteht in vielen menschlichen Gesellschaften, unterscheidet sich aber in Bezug auf die verwandtschaftlichen Verhältnisse zwischen denen jeweils die Sexualität untersagt wird. Einerseits ist mit dem Inzesttabu ein tief sitzendes Grauen verbunden. Andererseits kommt es vor, dass genau dieses Verbot besonders erotisch aufgeladen wird. In „unserer Kultur“ wird bei der Begründung des Inzesttabus regelmäßig mit dem Schutz von Abhängigen, bzw. mit Macht und Hierarchien argumentiert. Der Fall des verliebten Geschwisterpaares macht hier deutlich, dass Inzest nicht notwendigerweise mit Herrschaft und Gewalt verbunden ist.

Daneben tauchen in diesem Zusammenhang oft eugenische Argumentationsmuster aus der Mottenkiste „unserer Gesellschaft“ auf. Dabei wird sich auf die vermeintliche Autorität der Medizin berufen. Unterstellt wird auf Fortpflanzung orientierte Sexualität. Es soll ein vermeintlich höheres Risiko der „Behinderung“ vermieden werden. Genauso wie Menschen eingeredet wird, dass sie aufgrund irgendwelcher Merkmale mit so und so großer Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken sollen, wird argumentiert, dass ein Kind mit so und so großer Wahrscheinlichkeit nicht genormten gesellschaftlichen Maßstäben entsprechen könnte. „Behinderung“ wird dadurch hergestellt, dass Menschen eher als gesellschaftliche Masse denn als individuelle Persönlichkeit betrachtet werden.

Doch Bitteschön wovon reden wir eigentlich? Menschen – egal welche – die nebeneinander in der Straßenbahn sitzen, unterscheiden sich nur in wenigen Genen. Sollen unsere Gene darüber entscheiden, wen wir begehren oder lieben dürfen? Solche Sichtweisen des Menschen als Sklaven ihrer Gene finden sich heute nur noch in populärwissenschaftlichen Darstellungen.

Der politische Einsatz dieser Debatten wird durch den Hinweis auf die neuere Kulturtheorie sichtbar. (Butler: Antigones Verlangen) Der Ethnologe Lévi- Strauss hatte die These aufgestellt, die menschliche Kultur sei durch das Inzesttabu begründet. Sie wurde von dem Psychoanalytiker Lacan aufgenommen, der versuchte die herrschende Geschlechterordnung durch Verweis auf das Inzesttabu zu erklären. Hier ist der Vater jemand, der ausschließlich mit der Mutter schläft, die Mutter diejenige, die ausschließlich mit dem Vater Sex hat und die Kinder jene, die überhaupt keine gelebte Sexualität haben, nicht untereinander und wohl auch nicht mit sich selbst.

Hier wird deutlich, dass mit der Ausprägung des Inzesttabus in westlichen industriellen Gesellschaften ein normatives Modell von Verwandtschaft verbunden ist: Die bürgerliche Kernfamilie oder das Vater- Mutter- Kind Modell. Politisch kommt es darauf an, diese normative Konstellation als konservativen Wunschtraum zu entlarven. De facto erodiert nämlich die bürgerliche Kernfamilie seit langer Zeit. Menschen leben in Wohngemeinschaften, unglückliche Ehen werden geschieden, Schwule und Lesben haben Kinder und monogame Beziehungen sind nicht mehr selbstverständlich. Solche nicht- normativen Verwandtschaftskonstellationen müssen gesellschaftlich anerkannt, aktuell auch rechtlich und politisch geschützt werden.

Die Strafbarkeit von Inzest als Überrest eugenischer Politik sollte abgeschafft werden, wie in vielen anderen europäischen Ländern auch. Missbrauch und Gewalt werden auch durch andere Rechtsnormen wirksam verboten. Der Fall von Patrick S. und Susanne K. zeigt welche tief sitzenden Ängste für die Diskreditierung menschlichen Lebens mobilisiert werden. Auch heute noch sind nicht-normative Verwandtschaftskonstellationen von sozialer Ausgrenzung und physischer Gewalt bedroht. Im Großen muss das politische und rechtliche Primat von bürgerlicher Ehe und Kernfamilie vollständig beseitigt werden – so genannte „Regenbogenfamilien“ bedürfen der gesellschaftlichen Anerkennung.

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