Geschlecht und kapitalistische Produktionsweise, Queer und Antikapitalismus – Skizzen für neue Perspektiven

von Heinz-Jürgen Voß, Oktober 2011; zuerst auf dasendedessex.blogsport.de – Den Beitrag gibt es hier auch als pdf-Datei.

 

Um wirksame Konzepte für eine gerechte Gestaltung der Geschlechterordnung erarbeiten zu können, ist ein grundlegendes Verständnis der gesellschaftlichen Bedeutung von Geschlecht in der derzeitigen kapitalistischen, bzw. vielmehr spät-kapitalistischen, Wirtschaftsordnung erforderlich. Eines ist ganz offensichtlich: Die geschlechtliche Einordnung in Frau und Mann ist, bei allen Veränderungen der Art der Zuordnung und der geschlechtlichen Durchdringung der Gesellschaft, historisch hoch stabil. Wenn man bei wenigen gesellschaftlichen Bereichen von „Dispositiven“ im Sinne Michel Foucaults sprechen kann, so gilt das für „Geschlecht“, für „Frau und Mann“. Es handelt sich nicht nur um „Diskurse“, sondern um einen verfestigten gesellschaftlichen Bodensatz, der als quasi-natürlich erscheint, nicht befragt, geschweige denn intellektuell durchdrungen und verstanden wird.

Mit „der Moderne“, mit der kapitalistischen Produktionsweise – und Organisation der gesellschaftlichen Verhältnisse – haben sich auch für das Geschlechterverhältnis bedeutende Veränderungen ergeben. In der bürgerlichen Gesellschaft zeigte sich eine deutliche Sphärentrennung der gesellschaftlichen Bereiche – Frauen wurden aus wesentlichen Bereichen der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaften ausgeschlossen. Hier ergaben sich im Vergleich zu den privilegierten Schichten der vorangegangenen Jahrhunderte und Epochen durchaus restriktivere Momente: War es so äußerst wohlhabenden Frauen aus Herrschaftshäusern in aristokratischer Ordnung durchaus nicht selten möglich, sich ihren Interessen gemäß zu verhalten – beispielsweise sich mit Botanik und Sternenbeobachtung gründlicher zu beschäftigen –, so galten solche Möglichkeiten in der bürgerlich organisierten Gesellschaft selbst für äußerst wohlhabende Frauen (zunächst) oft nicht, sondern wurden sie mit einem Verweis auf „die Natur der Frau“ aus solchen Bereichen generell ausgeschlossen. Für ärmere Menschen galt der Ausschluss von Wissenschaften, schon auf Grund vorenthaltener Bildung und ökonomischer Grundlagen, freilich generell. Hier – also für die breite Masse der Bevölkerung – zeigte sich auch in der bürgerlichen Ordnung im 19. Jahrhundert keineswegs die deutliche Auftrennung der Sphären der Geschlechter, sondern waren Frauen und Männer in die Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbsarbeit einbezogen; Frauenlöhne waren aber dabei, bürgerlich organisiert, vielfach nur ein Bruchteil der ohnehin schon äußerst geringen Männerlöhne.
Hier treten bereits zwei Motive deutlich hervor, die es zu untersuchen gilt – und die äußerst bedeutsam sein werden. 1a) Simone de Beauvoir drückt einen dieser Punkte ganz plastisch und deutlich aus: „Die bürgerliche Frau hängt an ihren Ketten, weil sie an ihren Klassenprivilegien hängt. Man erklärt ihr unablässig und sie weiß, daß die Emanzipation der Frauen eine Schwächung der bürgerlichen Gesellschaft nach sich ziehen würde: vom Mann befreit, wäre sie zum Arbeiten verurteilt; sie mag bedauern, daß sie nur ihrem Mann nachgeordnete Rechte auf das Privateigentum hat, noch mehr würde ihr aber leid tun, wenn dieses Eigentum abgeschafft würde. Mit den Frauen der arbeitenden Klasse fühlt sie sich nicht solidarisch: sie steht ihrem Mann viel näher als den Textilarbeiterinnen. Sie macht sich seine Interessen zu eigen.“ (Beauvoir 2008 [1949], Das andere Geschlecht: 155) Es gibt also offensichtlich auch für die in der Geschlechter-Dichotomie benachteiligten Frauen Argumente, an der Geschlechterordnung festzuhalten. Selbstverständlich ist die Sichtweise der Sphärentrennung der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft breit befestigt (oft über „Natur“ und nicht über den zuvor als allumfassend ermöglichenden und beschränkenden „Gott“). Es erscheint damit nicht nur „Konservativen“, sondern auch so einigen „Linken / Linksliberalen“, „an Emanzipation Interessierten“ durchaus als „natürlich“, dass Frauen und Männer durch unterschiedliche Merkmale geprägt seien und diesen in der gesellschaftlichen Ordnung Rechnung getragen werden müsse. 1b) Durch die bürgerlich organisierte ungleiche Bezahlung auch der arm gehaltenen Menschen erschien auch diesen die deutliche Sphärentrennung zweier Geschlechter als anzustrebender Lebensstandard. Sie wollten also „dass der Mann soviel verdient, damit die Frau nicht arbeiten gehen muss“. Ein so über Generationen verfestigtes Denken ist schwer aufzuheben.
2) Der zweite hier schon aufscheinende Punkt ist nicht weniger bedeutsam. Wenn Jürgen Kuczynski analysiert „Die Löhne der Frauen und Kinder sind zum Teil bestenfalls als Taschengelder zu bezeichnen, und lagen auch bei den Frauen nicht selten um 50 bis 80 Prozent unter denen der Männer“ (Kuczynski 1949, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in England: 102), so gibt das einerseits eine gute Begründung dafür, warum auch in einigen frühen gewerkschaftlichen Organisationen, arbeitende Frauen als „Lohndrückerinnen“ erscheinen konnten und sich das gewerkschaftliche Streiten fälschlich auf die Verdrängung von Frauen aus der Fabrik-Produktion und nicht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit richten konnte – bürgerliches Denken in einer bürgerlich organisierten Gesellschaft. Interessant ist nun aber, und dass ist für den sich aktualisierenden neoliberalen Kapitalismus ein beachtenswerter Faktor, dass hier geschlechtsspezifische Gruppen als Konkurrentinnen erzeugt werden und mit dieser gruppenspezifischen Einteilung die Möglichkeit besteht, Löhne zu drücken, also Menschen stets nach quasi-natürlich gedachter Eignung unterschiedlich zu entlohnen. Dieser Punkt ist daher so relevant, da allein mit der Unterteilung in Gruppen und der Befestigung der Unterteilung, beispielsweise durch Argumente der Natürlichkeit, es als „gerecht“, ja als selbstverständlich erscheinen kann, Menschen ungleich zu entlohnen und ungleich zu behandeln – „Frauen seien nun einmal schwächer, weniger Leistungsstark etc. als Männer“ und müssten daher, sofern sie erwerbstätig wären, geringer entlohnt werden oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen tätig sein, in denen dann die geringere Entlohnung nicht auffiele, aber selbst wenn sie Widerspruch erregte, gut und simpel zu rechtfertigen wäre. Es war niemals im Sinne bürgerlicher kapitalistischer Produktionsweise, dass mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt dauerhaft (!) entzogen würden, da damit einerseits die zur Verfügung stehenden „Produktionsmittel“ – hier Menschen – unnötig verknappt würden, andererseits eine bedeutsame an Identitäten orientierte Gruppeneinteilung entfiele, mit der die Produktionskosten (hier Löhne) gedrückt und die Gewinne maximiert werden können. (Anm. 1 – vgl unten)

Es ging also nicht um dauerhaftes (!) Entziehen, denn es bietet sich mit der geschlechtlichen Unterscheidung, in Zusammenhang mit bürgerlichen Ideen, die Frauen in Familie und am Herd verorten, auch ein hervorragendes Potenzial zur (kurzfristigen) Anpassung des Arbeitsmarktes in Krisenzeiten. In „modernen Staaten“ wird in solchen Krisenzeiten die Versorgung der Arbeitslosen vom Staat übernommen – sie sind damit der Gewinn-und-Verlust-Rechnung des privaten Unternehmers entzogen. Das stete Aushandeln geschlechtlicher Gleichheit und Ungleichheit ist damit für kapitalistische Produktionsweisen, für den privaten Unternehmer, vielfältig produktiv. Die Entlohnung kann gedrückt werden, die „Qualität und Quantität“ der Arbeitskräfte kann an den schwankenden Bedarf angepasst werden (Frauen als „fragile Ressource“). Auch die „Ehe“ erweist sich bei der Anpassungsroutine der Arbeitskraft als produktiv, da Erhebungen zeigen, dass in Zeiten zunehmender ökonomischer Unsicherheit und rückläufiger Löhne, Ehen wieder länger halten und Scheidungen seltener werden – „überschüssige Arbeitskräfte“ werden so schon durch Ehen „aufgefangen“ und der unternehmerischen Bilanz ferngehalten, sie müssen damit nicht einmal einem Staatshaushalt (oder einer Versicherung) über Arbeitslosenunterstützung „zur Last fallen“. Gleichzeitig üben Emanzipationsbestrebungen einen steten Modernisierungsdruck aus – und hat sich Kapitalismus als ungeheuer anpassungsfähig erwiesen.
Damit ist aber eines auch klar: Eine vollständige Gleichstellung der Geschlechter ist in einer kapitalistischen Produktionsweise schier unmöglich, da damit eine erhebliche Anpassungsroutine des Arbeitskräftereservoirs entfallen würde. Nur in einem Extremfall, der mit anderen „Anpassungsroutinen“ auf Grund von Unterdrückung im Zusammenhang steht, ist die vollständige Gleichstellung und Gleichheit von Frau und Mann, ggf. sogar die Aufhebung des Geschlechts umsetzbar. Sie dürfte nur in einem Land oder in wenigen Ländern mit einem kleinen Teil der Erdbevölkerung geschehen – in diesem Fall könnte über Nation, Imperialismus, rassistische Diversifizierung ein ähnlich großes „Arbeitskräftereservoir“ wie das der Frauen mit mehr als 50 Prozent der Bevölkerung (zzgl. Kinder, Alte) als „Anpassungsroutine“ des Arbeitsmarktes bereitstehen. (Anm. 2) (Deutlich wird damit aber auch, dass ein konsequentes, umfassendes, internationales Streiten für die Gleichstellung und die Gleichheit der Geschlechter (mit Aufgabe normalisierender Lebensweisen, wie der Ehe und ihrem „Ehegattensplitting“), bei gleichzeitigem, ebenso international ausgerichtetem Kampf gegen Rassismus und ebensolchen Kampf gegen die Konstituierung von unteren Schichten als vermeintlich „natürlich“ auch bedeutet, dass wesentliche Eckpfeiler kapitalistischer Produktionsweise massiv angegriffen werden. Eine intersektionale Perspektive, die für eine ökonomische Gleichbehandlung, eine gesellschaftliche Gleichstellung von Menschen eintritt, die sich gegen Argumente der „Natürlichkeit“ wehrt, mit der Menschen sexistisch und rassistisch gruppiert werden, und stattdessen darauf aufbaut, dass Menschen stets erst in Gesellschaft werden, dass alle Unterscheidungen von Menschen also gesellschaftlich und damit änderbar sind,(Anm. 3) eröffnet das Potenzial zumindest eine solch simple „Anpassungsroutine“ für den Arbeitsmarkt und den steten Druck zur Verringerung der Löhne aufzuheben und sie bringt kapitalistische Produktionsweisen möglicherweise grundlegend ins Wanken.)
In dem sich derzeit aktualisierenden Kapitalismus, in dem die massenweise Fließbandarbeit zunehmend der Vergangenheit angehört, flexible Arbeitskräfte mit je spezifischen individuellen Fähigkeiten benötigt werden und dies mit einer Flexibilisierung und Ausdifferenzierung der Lebensweisen einhergeht, heißt die, an – nun vielfältigen – Gruppen-Identitäten orientierte, differenzierte Entlohnung ein ungeheures Potenzial, die Lohnkosten zu verringern und die Gewinne zu erhöhen. Dabei gehen wiederum zwei widersprüchlich erscheinende Perspektiven zusammen: Einerseits werden Identitäten als Norm gesetzt und befestigt – so Frau, Mann; Homosexuell, Heterosexuell –, gleichzeitig werden u.a. mit Antidiskriminierungsregelungen die individuellen und ganz vielfältigen Verortungen / Verhandlungen / Verbindungen dieser Identitäten durch jeden einzelnen Menschen ermöglicht. Ist es durch die erste Sicht möglich, die unterschiedliche gruppenbezogene Bezahlung von Frauen und Männern so lange wie irgend möglich aufrecht zu erhalten, so gelingt es mit der zunehmenden Anerkennung von Individualität, im Sinne „individueller Fähigkeiten“ bzw. „jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, Menschen ganz gezielt einzusetzen und zu entlohnen. Dabei kann einerseits dem unterschiedlichen Organisierungsgrad und Vereinzelungsgrad der Arbeitenden in der Höhe der Löhne Rechnung getragen werden, andererseits kann eine solche unterschiedliche Entlohnung wiederum als quasi-natürlich, einfach den unterschiedlichen Fähigkeiten Rechnung tragend, und damit als „gerecht“ und selbstverständlich dargestellt werden. Wie die Lebensumstände die Menschen formen, bleibt dabei selbstverständlich aus dem Blick – so werden ungleiche Möglichkeiten, Bildung zu erlangen, die insbesondere Menschen „mit Migrationshintergrund“ und schlechter ökonomischer Ausstattung des Elternhauses treffen, nicht reflektiert. Vielmehr sind gerade der unterschiedliche Bildungsgrad, die ungleichen Möglichkeiten von Menschen, Prekarisierung und Diskriminierung von Menschen „mit Migrationshintergrund“ (damit sind sie bereit, jede Beschäftigung anzunehmen), die Unsicherheit des Aufenthaltes von Flüchtlingen etc. konstituierend dafür, dass man Menschen ganz spezifischer, individueller Eignung für unterschiedliche Lohnarbeit hat. Während eine hervorragend ausgebildete Frau dann auch die Möglichkeiten haben wird, hervorragend zu verdienen – und damit eine emanzipierte, ökonomisch gesicherte Position unabhängig eines Mannes einzunehmen –, ergeben sich für Menschen „mit Migrationshintergrund“ und aus ökonomisch schlecht ausgestattetem Elternhaus beiderlei Geschlechts nur in seltenen Einzelfällen die Möglichkeiten, eine solche Position zu erlangen, meist hingegen äußerst prekäre und sich über das jetzige Maß noch hinaus prekarisierende Beschäftigungen. Flüchtlinge sind, auf Grund der unsicheren und illegalisierten Lebenssituation, in der Bedrängnis, jede erdenkliche Arbeit zu jedem Preis aufzunehmen (und es kann ihnen sogar der Lohn vorenthalten werden, weil die Abschiebung droht). Es gilt hier um den globalen Maßstab zu erweitern: Um eine Diversifizierung von Löhnen zu erreichen, werden die uniformsten und am schlechtesten entlohnten Tätigkeiten nicht im „eigenen entwickelten“ Industrieland (von Ungelernten, schlecht Ausgebildeten oder rassistisch und sexistisch Prekarisierten) erfüllt, sondern in Länder der „dritten Welt“ verlagert.
Frauen und Männer, die hervorragend verdienen, können die Arbeit, die für die Reproduktion der Arbeitskraft vorausgesetzt wird und bei ärmeren unentgeltlich nebenbei erfolgt, durch schlechter entlohnte HausarbeiterInnen erfüllen lassen. Emanzipatorische Forderungen nach Anerkennung der Gleichberechtigung von Frau und Mann, der Anerkennung – Toleranz und Akzeptanz – von vielfältigen geschlechtlichen Identitäten, sexuellen Orientierungen, religiösen und kulturellen Hintergründen etc. treffen also mit Produktionsverhältnissen zusammen, in denen individuelle Fähigkeiten bedeutsamer werden. Die emanzipatorischen Forderungen konnten somit auch kanalisiert und aus unternehmerischer Perspektive positiv gewendet werden. Die individuellen Fähigkeiten erscheinen hier wiederum nicht als Produkt der Sozialisation, also gesellschaftlicher Ungleichbehandlung, sondern als quasi-natürlich. Während sich für eine kleine Zahl Privilegierter damit gute und abgesicherte ökonomische Bedingungen ergeben, bieten sich für die Unterprivilegierten und Prekarisierten schlechte und unsichere ökonomische Bedingungen – sogar noch schlechtere als zuvor –, die sich familiär verfestigen (vgl. Der Spiegel, 29.3.2011: Gleich und gleich gesellt sich zu gerne). Für einen Anteil der Unterprivilegierten ergeben sich zumindest – ggf. nur vorübergehend, Krisenzeiten führen möglicherweise wieder zur Einschränkung – geschlechtliche und sexuelle Freiheiten. Leo Kofler (2008 [1985], Aufsatz im von Heike Friauf hrsg. Sammelband Eros und Politik) schreibt diesbezüglich passend: „Marcuse erkennt sehr richtig die klassengesellschaftliche Gegenwart im Lichte einer ‚repressiven Entsublimierung‘ stehend. Das bedeutet: im Lichte einer ‚demokratischen‘ Scheinfreiheit, deren Wesenheit darin liegt, daß sie erotische – und das heißt hier vornehmlich sexuelle – Freiheit verspricht und formell auch gewährt, aber allein zu dem Zweck, um das Individuum über die psychischen Prozesse der Verinnerlichung und der Identifikation um so stärker an die repressive Ordnung zu fesseln, damit der bestehenden Unterdrückung Dauer zu verleihen.“

Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ ist klar gefasst: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. […] Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ Kapitalistische Produktionsweise ist durch stete Veränderung gekennzeichnet. Eine Verfestigung oder eine Liberalisierung und Individualisierung von Lebensweisen steht nicht im Gegensatz zu kapitalistischen Produktionsweisen (und gesellschaftlichen Verhältnissen), sondern sie weisen lediglich auf Veränderungen hin. War es nach dem zweiten Weltkrieg in einigen Industriestaaten möglich und durch die Konkurrenz mit dem Lager sozialistischer Länder notwendig, auch breiteren Bevölkerungsschichten eine größere ökonomische Sicherheit zu gewährleisten, zielen die aktuellen, neoliberalen Entwicklungen auf eine Zuspitzung von Unsicherheit – die damit verbundenen Veränderungen wurden in den bisherigen Ausführungen deutlich.
Die stete Veränderung der Produktionsverhältnisse und der gesellschaftlichen Verhältnisse steht in engem Zusammenhang mit der steten kapitalistischen Notwendigkeit, Gewinn zu erzielen und Kapital zu vermehren. Das bedeutet auch, dass immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens direkt in die kapitalistische Produktionsweise einbezogen, also warenförmig werden müssen. Drei Möglichkeiten der Expansion sollen hier kurz vorgestellt werden – beim dritten Punkt wird der direkte Bezug zu Geschlecht, zu Geschlechterverhältnissen offensichtlich: 1) Eine Expansion kapitalistischer Produktionsweise kann schlicht über neue technische Entwicklungen erfolgen. Damit werden neue Produkte erschaffen, die menschliche Bedürfnisse hervorbringen, die durch Konsumtion befriedigt werden können. 2) Eine zweite Möglichkeit ist die stete internationale Ausdehnung, die durch unterschiedliche Formen des Imperialismus gekennzeichnet ist. So können beispielsweise Formen landwirtschaftlicher Selbstversorgung, wie sie im globalen Maßstab noch existieren, verdrängt werden und es können neue Formen „natürlicher Ressourcen“ erschlossen (vielmehr: erfunden) werden, wie es aktuell mit der Patentierung von „Genen“ von Pflanzen und Tieren der Fall ist, wobei die Nutzpflanzen und -tiere dann unter Umständen nicht mehr von den Menschen genutzt werden können, die – bzw. deren Elterngenerationen – sie kultivierten. Diese Möglichkeit der Expansion kapitalistischer Produktionsweise kann als „äußere Landnahme“ bezeichnet werden. 3) Eine weitere Möglichkeit der Ausdehnung stellt eine „innere Landnahme“ dar. Sie bedeutet, dass immer mehr menschliche Lebensbereiche als direktes Ziel kapitalistischer Produktion und Konsumtion erschlossen werden. So hatte die „sexuelle Revolution“ auch zum Ergebnis, dass Sexualität aus dem (vordergründigen) Abseits der Gesellschaft geholt und in weit größerem Maße als zuvor zum Ziel kapitalistischer Produktion und Konsumtion werden konnte. Gleiches gilt für „perverse Sexualitäten“, wie Homosexualität, die im 19. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften als Identität aufkam,(Anm. 4) zunächst aber illegalisiert war und verfolgt wurde. Mit einer (zunächst beschränkten) Anerkennung am Ende des 20. Jahrhunderts, direkt verbunden mit einer Heteronormalisierung, bieten sich auch hier verstärkt Potenziale der Produktion und Konsumtion. Männlichkeiten (und Weiblichkeiten; aber eine höhere Kaufkraft wird bei den ersteren erwartet) erscheinen als flexibler, bedrohter und somit ist auch einiges Zutun durch den einzelnen Menschen erforderlich, um gesellschaftliche Stereotype des „Mannes“ und der „Frau“, des „Schwulen“, der „Lesbe“ und der „Hete“ – hervorgebracht und befestigt u.a. durch Werbung – zu erfüllen, was mit Kleidung, Kosmetika, Schmuck, Fitness, Solarbräune, operativen Eingriffen, Wohnutensilien, Reiseerlebnissen etc. erreicht werden kann. Individualisierung von Lebensweisen, vor dem Hintergrund der Befestigung gesellschaftlicher geschlechtlicher und sexueller Stereotype muss so in einem Zusammenhang von Produktion und Konsumtion untersucht werden.

Diese Skizze soll zunächst einige notwendige Perspektivverschiebungen aufzeigen, die nötig sind, um aktuell patriarchale und kapitalistische Unterdrückungsverhältnisse zu reflektieren und sie zu überwinden – kurz gefasst: Es war niemals im Sinne kapitalistischer Produktionsweise, die Mehrheit der Frauen dauerhaft aus dem Erwerbsarbeitsmarkt auszuschließen. Mit Individualisierung und Flexibilisierung von Produktionsweisen und Lebensentwürfen zeigen sich aktuell bedeutsame Veränderungen. Sie stellen neue Herausforderungen für feministisches und queer-feministisches Streiten dar. Die Veröffentlichung dieser Skizze stellt einen Einwurf dar, der zu weiteren Diskussionen anregen soll.

Diesem Text lagen Arbeiten der folgenden AutorInnen zu Grunde, die wichtige Anstöße lieferten. Um einen Zugang zum Thema zu finden und weitere Perspektiven entwickeln zu können, wird empfohlen, an sie anzuschließen.
Zu kapitalistischen Produktionsweisen) Karl Marx, Friedrich Engels, Lilly Braun, August Bebel, Jürgen Kuczynski, Georg Fülberth, Robert Steigerwald, Volkmar Sigusch
Zu feministischen Perspektiven, verbunden mit Kapitalismuskritik) Simone de Beauvoir, Frigga Haug, Gisela Notz, Heike Friauf, Roswitha Scholz, Tove Soiland
Zu poststrukturellen Perspektiven) Michel Foucault, Judith Butler, Jaspir Puar, Jin Haritaworn, Antonio Gramsci, Leo Kofler, Nancy Peter Wagenknecht
Zu international interessierter Geschichtsschreibung) Fernand Braudel, Sonja Brentjes, Burchard Brentjes

Aktuell weiterlesen (August 2013):
Buch “Queer und (Anti-)Kapitalismus” (von Heinz-Jürgen Voß / Salih Alexander Wolter; Stuttgart 2013: Schmetterling Verlag)

Anmerkungen:
(1) In Kontrast hierzu, aber keineswegs im Widerspruch, stehen sich mit der Aufklärung herausbildende bürgerliche Ideale, die lange Zeit und teilweise noch immer vielfach auf eine Sphärentrennung weiblicher und männlicher Bereiche abzielten. Die privilegierte bürgerliche Frau sollte dem Mann die lukrativen und Prestige versprechenden Bereiche der Gesellschaft nicht streitig machen, sondern wurde in pfiffig-kitschiger Vorstellung auf Kinder, Familie, Haus, Herd verwiesen. Während immer mehr gesellschaftliche Bereiche einer kapitalistischen Produktionsweise unterworfen wurden – bspw. sich herausbildende „moderne“ Wissenschaften, die in größerem Umfang gut dotierte Anstellungen sicherten – und sich damit auch immer mehr Bürgerliche in einer – wenn auch gut – entlohnten „abhängigen“ (dies gilt mehr oder weniger) Tätigkeit befanden, wurde dieses Ideal mitgenommen – der Lohn der Privilegierten etablierte sich also als „Familienlohn“, der hoch genug war, dem Wissenschaftler / Politiker / Manager etc., „seiner Frau und seinen Kindern“ ein gutes Auskommen zu sichern. Dass sich ein solches Modell (vorübergehend) auch mehr und mehr auf ärmere Menschen, die tatsächlich lohnabhängig Arbeitenden, ausdehnen konnte, ist 1) ein Verdienst der proletarischen Bewegungen (inklusive der proletarischen Frauenbewegung!), die für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeitenden stritten und dabei – oben wurde angedeutet warum – durchaus die Lebensweise der bürgerlichen Privilegierten im Blick hatten, und 2) auch Resultat der Kompromisse, die die bürgerlichen Privilegierten zugestehen mussten (und „wollten“; einige Bürgerliche stritten für die Verbesserung der Lebensverhältnisse armer Menschen), wenn sie ihre Privilegien (und damit auch die kapitalistische Produktionsweise) sichern wollten.

(2) In einem solchen Fall könnte – und wir sehen trotz der zurückgesetzten Position der Frauen in westlichen Staaten in derzeitigen Kriegs-Begründungen unvollkommene Formen davon – stets „Emanzipation“ (von Frauen, von Homosexuellen – und anderen Gruppen-Identitäten, die noch aufkommen können) als Grund angeführt werden, Krieg gegen andere Länder zu führen (bzw. die Begründung wäre dann: Menschenrechte in anderen Ländern umzusetzen), um die dortigen ökonomischen Ressourcen zu erhalten. Es könnten also durch militärische Intervention ganze Länder und Regionen in Instabilität gezwungen und in dieser gehalten werden, da stets ein Grund zur Intervention „bestehen“ würde – dieser Grund wäre weiten Teilen der Bevölkerung des jeweiligen entwickelten Landes gut vermittelbar und könnte von ihr geteilt werden.

(3) Ich habe den Punkt an anderer Stelle ausführlich, insbesondere mit Bezug zu den Schriften von Karl Marx und Simone de Beauvoir, hergeleitet: Voß (2011), Geschlecht – Wider die Natürlichkeit, insbesondere S.50ff. Diese Perspektive bildete eine der wichtigen Grundlage marxistischer und feministischer Auffassungen.

(4) „Die Sodomie – so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. [ … ] Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (Foucault, Der Wille zum Wissen; nach: Klauda (2008), Die Vertreibung aus dem Serail, S.10f)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert