Empört Euch!

(von Heinz-Jürgen Voß, zuerst in „Rosige Zeiten“, Nr. 138)

In den letzten Jahren haben sich an zahlreichen Orten in der ganzen Welt Menschen empört. Von Arabien, über Spanien und Griechenland bis zur USA haben viele Tausende Menschen deutlich gemacht, dass sie anders leben wollen und dass sie selbst bestimmen wollen, was in ihrem Land passiert. Weder von Regimen, noch von vermeintlich freien demokratischen Regierungen, die zum Spielball der Finanzbranche geworden sind, wollen sie sich gängeln lassen.
In der Bundesrepublik Deutschland kam von all dieser Aufregung kaum etwas an. Ausnahme waren die kurzen und lautstarken Proteste zu Stuttgart 21, die sich zu Massenprotesten entwickelten. Aber mit einem Vermittlungsverfahren unter Geißler und einem grünen Ministerpräsidenten im Land, wurden die Proteste rasch wieder klein – und kann als Ergebnis nun doch der Bahnhof gebaut werden. Interessant war das Verfahren dennoch für das Funktionieren der Demokratie in diesem Land: Schon ganz zu Beginn der Planungen von Stuttgart 21 vor einem Dutzend an Jahren protestierten Bürgerinnen und Bürger. Sie wurden von der Deutschen Bahn vertröstet – es hieß, dass es noch genügend Raum zur Mitgestaltung geben werde. Dieser Raum wurde nie gewährt, stattdessen waren auf einmal vollendete Tatsachen geschaffen und konnte das Projekt unter anderem mit dem Argument vorangetrieben werden, dass doch schon 1.000.000.000 EUR in die Planungen und ersten Baustufen geflossen seien. Interessant auch für das Verständnis von Demokratie: Wäre nur in Stuttgart abgestimmt wurden, wäre das Ergebnis des Volksentscheides sehr knapp. Da ganz Baden-Württemberg abstimmte, verschob sich das Ergebnis stark zu Gunsten der Befürworter von Stuttgart 21. Über den Radius des Abstimmungsraumes lässt sich also das Ergebnis beeinflussen. Das könnte für die Umsetzung der – ebenfalls unter Kritik stehenden – norddeutschen Y-Trasse der Deutschen Bahn eine wichtige Erkenntnis sein. Aber auch für die Abstimmung in einem Volksentscheid zu einem Endlager für radioaktiven Abfall ist das eine wichtige Erkenntnis.
Abgesehen von Stuttgart 21 passierte in der Bundesrepublik Deutschland an Massenprotesten kaum etwas. Das verwundert, da die Ergebnisse der Hans-Böckler-Stiftung zur Entwicklung der Realeinkommen und der Lebenssituation der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen erschreckend sind. Während in den alten Bundesländern etwa die Hälfte der Erwerbstätigen in „irregulären Beschäftigungsverhältnissen“ arbeiten, also in Teilzeitjobs und Minijobs, so gilt das für die neuen Bundesländer nur nicht in diesem Ausmaß, weil dort ebenfalls etwa die Hälfte der Erwerbstätigen zwar Vollzeit arbeiten, aber dennoch nah der Armutsgrenze bleiben. Sie haben einfach so niedrige Löhne. Dass in kaum einem Industrieland die Schere zwischen Arm und Reich so groß und der soziale Aufstieg aus ökonomisch schlecht gestellten Schichten in die „Mittelschicht“ so schwer ist, wie in der Bundesrepublik Deutschland, zeigen Statistiken von OECD und die alljährlichen PISA-Ergebnisse schon länger.
Warum dann solche Lethargie, solches Zurückhalten bei Protesten? Selbst von der Partei Die.Linke konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie Angst vor Veränderung hatte. Wenn es die Möglichkeit zur Veränderung in Richtung einer sozial gerechten Gesellschaft gibt, dann doch an diesem Punkt, an dem die Absurdität kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse offensichtlich ist. Wie will man weiterhin Verhältnisse rechtfertigen, in denen auf Nahrungsmittel spekuliert wird, anstatt dass sie von Menschen gegessen werden können? Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung musste unlängst einräumen, dass die linken Kritiken der letzten Jahrzehnte gerechtfertigt waren, dass die Linken als einzige die gesellschaftliche Entwicklung analytisch korrekt gefasst haben. Die Linken haben recht, aber nichts ändert sich, bzw. die Linken verstecken sich sogar selbst.
Einen Zugang zu diesem Problem können wir vielleicht über uns Schwule gewinnen. Lesben waren und sind etwas kritischer, wie Heike Raab in „Sexuelle Politiken“ herausarbeitete und begründete, daher soll es hier um die Schwulen gehen. Stets mit Benachteiligungen konfrontiert, wie sie sich in alltäglichen kleinen Beschimpfungen und Diskriminierungen zeigen, schätzt man als Schwuler schon die kleinen gesellschaftlichen Entwicklungen, mit denen Schwulsein als selbstverständlich erscheint. Eingetragene Lebenspartnerschaft, Antidiskriminierungsregelungen, die Betonung der Bedeutung der Anerkennung von Homosexualität für die volle Gültigkeit der Menschenrechte – all das streichelt die leidgeprüfte Identität, in die man als Schwuler das Leid aller Schwulen aufgenommen hat, die jemals gelebt haben. Dabei mag man für das eine oder andere derzeit vorhandene Leid blind werden. Vielmehr noch – und das spielte schon in der letzten ROZ eine Rolle – übersieht man schnell, wie sich die Emanzipation der Homosexuellen eigentlich nur im Zusammenhang der Durchsetzung neuer westlicher Machtinteressen erschließt. Volkmar Sigusch formulierte in „Neosexualitäten“: „Die Freiräume waren noch nie so groß und vielgestaltig. Das Paradoxe daran ist: Je brutaler der Kapitalismus ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit beseitigt, also Unfreiheiten produziert, desto größer werden die sexuellen und geschlechtlichen Freiräume. Offensichtlich bleibt den Mechanismen der Profit- und Rentenwirtschaft vollkommen äußerlich, was die Individuen tun, solange sie nur ihre sexuellen Orientierungen, ihre geschlechtlichen Verhaltensweisen, überhaupt ihre kleinen Lebenswelten pluralisieren.“ Neben dieser innenpolitischen Dimension ist die außenpolitische nicht zu unterschätzen: So werden Länder als schwulenfeindlich gebrandmarkt – in voller Verkennung, dass Homophobie und die Verfolgung von Schwulen ureigenste europäische Produkte sind. Nie gab es soviel Verfolgung von gleichgeschlechtlich begehrenden Männern wie in dem Europa der Moderne. Erst im Zuge der „Modernisierung“ der übrigen Welt kommen auch in übrigen Teilen der Welt ähnliche Intoleranz und Verfolgung auf, wie mit dem modernen Europa für Frauen (Hexenverfolgung) und für gleichgeschlechtlich begehrende Männer aufkamen und noch existieren. Thomas Bauer arbeitet dies in „Die Kultur der Ambiguität“ auf. Gerade die europäischen vereindeutigten und zurechtgestutzten Identitätsmodelle nicht in alle Welt zu exportieren, könnte bedeuten, Raum für Toleranz und Pluralität zu lassen. Wie gesagt: Bitte Bauers Buch lesen – es bietet für unser Weiterdenken einiges Neues.
Es wird derzeit soviel gesagt. Das Schlagwort „Emanzipation“ erscheint per se schon als links und es wird vollkommen übersehen, dass es nun auf einmal von Rechten aus der CSU vorgebracht wird, dass es sogar eingesetzt wird, um Krieg zu rechtfertigen, unter anderem, um die eigenen ökonomischen Interessen durchzusetzen, wie der ehemalige Bundespräsident Köhler bestätigte. ‚Wo alle reden, wird niemand gehört’ – das erscheint als aktueller Leitsatz. Allgemein wird das Reden schon als Grundlage von Demokratie gesehen. Aber wenn wir merken, dass das Reden des einen Menschen wesentlich weniger nützt, als das Reden des anderen Menschen, dann gerät diese simple Auffassung schon ins wanken. Interessant ist hier, was in den Nachrichtensendungen berichtet wurde und ggf. – abhängig vom Intendanten – berichtet werden konnte. So gab es in den Nachrichtensendungen Tagesschau und Heute von ARD bzw. ZDF zum Besuch des Papstes praktisch keine Berichte über die Tausenden Menschen, die gegen ihn demonstrierten. Stattdessen wurde jede Etappe seines Besuchs breit geschildert. Ebenso wenig gingen die großen Demonstrationen mit jeweils Tausenden Teilnehmenden einerseits für Frieden andererseits auch die gegen Rassismus in die Medienberichte ein. Über einige hundert Menschen, die in Moskau demonstrieren, wird hingegen ausführlich berichtet. Die Regierung in Moskau erscheint damit zurecht als totalitär, aber was ist mit der Regierung in der Bundesrepublik Deutschland? Achtet bitte einmal selbst darauf, wenn von Polizeieinsätzen mit Tränengas auf Demonstrationen die Rede ist. Einmal sieht man solche Bilder aus einem nicht-europäischen Land – meist wird dann der Polizeieinsatz als hart und gewalttätig erwähnt. Sieht man ähnliche Bilder aus Hamburg St. Pauli, Stuttgart, Leipzig oder Dresden wird hingegen betont, wie durch die Polizei versucht wurde, Ruhe und Ordnung zu wahren. Aber auch auf diesen Bildern sieht man Polizistinnen und Polizisten, wie sie auf DemonstrantInnen knien, auf sie einschlagen oder sie mit Tränengas drangsalieren.
Hier wird kein Leid beklagt, sondern fühlen sich Menschen sicherer, obwohl andere Menschen gerade zusammengeschlagen werden. Auch der Tod der jährlich 2000 Mauertoten im Mittelmeer wird nicht beklagt. Oft werden die seeuntüchtigen und überladenen Boote durch die Grenzpolizei Frontex abgedrängt, Boote versinken darauf hin. Jährlich sind so 2000 Tote zu beklagen. Auch als der arabische Frühling aufkam, war erstes Interesse der Europäerinnen und Europäer, sich schwarze Flüchtlinge vom Hals zu halten. Eilig wurden neue Abkommen geschmiedet, die auf die Beibehaltung der wegen ihrer Brutalität und Unmenschlichkeit bekannten nordafrikanischen Flüchtlingslager zielten. Ist ein afrikanisches Menschenleben weniger wert, ist einer der jährlich sterbenden 2000 Menschen weniger zu beklagen und gilt es diesen Tod weniger zu verhindern, als es beispielsweise bei den 100 Toten an der Mauer, ermordet von der Grenzpolizei der DDR, der Fall gewesen ist?
Wie weit darf es in einem Land gehen, bis wir uns empören? Die Hälfte der Bundestagsfraktion einer demokratischen Partei wird überwacht. Wo kommen wir hin, wenn die ausführende Gewalt die gesetzgebende überwachen darf, zudem die Regierung die Opposition in all ihrem Tun und in all Ihren Vorhaben stets überwacht, um entsprechend schnell – gegebenenfalls sogar im Vorfeld von Gesetzesinitiativen und öffentlichen Kampagnen – agieren und diesen zuvorkommen zu können? Wie werden auf diese Weise Wählerinnen und Wähler manipuliert, wenn der Opposition keim Raum gelassen wird, „auch mal ein Korn zu finden“ oder einfach öffentlichkeitswirksam zu punkten? Und wie kann es sein, dass obwohl in Sachsen das Landesverfassungsgericht ausdrücklich die flächendeckende Ausspähung von Mobilfunkdaten als verfassungswidrig erklärt hat, dass dennoch die Dresdner Polizei verlautbaren lassen kann, dass sie in diesem Jahr wieder alle Mobilfunkdaten der Dresdnerinnen und Dresdner rund um den 13. Februar erfassen wird?

In diesem Land zeigt sich nun deutlich ein gefährliches und undemokratisches Eigenleben, eingewoben in zunehmende Prekarisierung vieler Menschen. Wilhelm Heitmeyer hat u.a. in „Deutsche Zustände“ (Folge 10, 2011) deutlich gezeigt, wie nahrhaft ein solcher Boden für Homophobie, Rassismus und allgemein für Menschenfeindlichkeit ist.

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