„Einer der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte“ – Doppelrezension zweier Bücher von und über Ronald M. Schernikau

von Ralf Buchterkirchen

irgendwer hat den leuten eingeredet, wir alle müssen sterben, das ist natürlich völliger humbug. keiner stirbt, wenn er nicht will, und jeder lebt, solange er weitermacht, das problem ist: die leute machen nicht.
R.M. Schernikau, Legende

Ronald. M. Schernikau, geboren 1960 in Magdeburg, ging 1965 mit seiner Mutter in den Westen. Mit 19 Jahren veröffentlichte er die   ‚Kleinstadtnovelle‘ – diese  Geschichte über Coming Out in der Provinz wurde sein erfolgreiches Debüt. Nach dem Abitur zog er nach Berlin, lernte dort unter anderem Mathias Frings und die Westberliner Polit- und Schwulenszene kennen. Jedoch versuchte er weitgehend erfolglos einen Verlag für seine späteren Arbeiten zu finden. 1987 gelang es ihm,  in der DDR, am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher, zu studieren. Als Abschlussarbeit entstehen „Die Tage in L“. In der DDR werden sie nicht gedruckt, ihr Erscheinen im Westen fällt mit dem Fall der Mauer zusammen. Im September 1989 wird Schernikau DDR-Bürger, arbeitet an der „Legende“ – seinem Hauptwerk. 1991 stirbt Ronald M. Schernikau mit 31 Jahren an AIDS.
Dieses Jahr sind zwei Bücher erschienen, die sich auf unterschiedliche Weise dem Leben Schernikaus zuwenden und die je sehr verschieden mit dem Leben des Künstlers verbunden sind. Mathias Frings zeichnet in ‚Der letzte Kommunist‘ anhand ihrer gemeinsamen Biographie das Leben des Ronald M. Schernikau höchst amüsant, aber auch nachdenklich nach.
‚Irene Binz. Befragung‘ ist hingegen die Lebensgeschichte von Ellen Schernikau, Ronalds Mutter, die sie ihm – er war damals 21 Jahre alt – in langen Interviews erzählte und zum Geschenk machte. Gut lesbar, mit dem Eindruck der Naivität sichtlich spielend, hat Ronald M. Schernikau diese Interviews in einen Roman verwandelt. Beide Bücher bilden einen spannenden unverstellten Blick auf deutsch-deutsche Geschichte und beschreiben direkt und indirekt einen der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte. Aber der Reihe nach:
Ellen Schernikau, im Roman ‚Irene Binz. Befragung‘ die Irene Binz, wird in der DDR der 50er Jahre groß. Sie ist politisch aktiv, will mithelfen die DDR zu entwickeln. Sie lernt Lorenz kennen (im Roman: Thomas K.). Noch bevor  Ronald geboren wird, flieht er 1960 in den Westen, allerdings weniger aus politischen Gründen, vielmehr wegen illegaler Geschäfte in seinem Briefmarkenladen. Was Ellen zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Lorenz war überzeugter Nazi und blieb es auch nach 1945. Er fordert sie auf, in den Westen nachzukommen. Ellen muss sich entscheiden, zwischen ihrer politischen Heimat und ihrer Liebe. 1966 entscheidet sie sich für ihre Liebe, nicht ahnend, dass Lorenz mittlerweile wieder  verheiratet ist. In der niedersächsischen Provinz versucht Ellen ihr Leben zu meistern und ihren Sohn Ronald  groß zu ziehen. Was wie aus einem Roman klingt ist ihre Lebensgeschichte. Spannend und detailreich diktiert sie diese ihrem Sohn, der daraus das vorliegende Werk macht. Es erzählt viel über Emanzipation und Selbstverständnisse in Ost wie West; aus einer ungewöhnlichen Perspektive zeigt es die Zerrissenheit deutsch-deutscher Lebensläufe und kommt dabei ohne klassisches Schwarz-Weiß-Denken aus. Die Gründe für ihre Flucht beschreibt die Figur Ellen Binz: „Aber ich wollte zu Thomas K, ich wollte nicht in die BRD.[…] Grundsätzlich war klar, daß ich nicht gehe. Ich hätte es ja tun können. Aber ich habe eben auch gedacht, wie es wird das weiter zu gehen. Lohnt es sich. Lohnt es sich rüber zu gehen, muß nicht hierbleiben, muß da nicht hin.“
Diese Zerrissenheit zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch – sie macht den besonderen Reiz dieses Buches aus und macht es spannend und tiefgründig zugleich. Auf der einen Seite bleibt Ellen Schernikau sich treu. Als sie in Salzgitter an der Zentralen Aufnahmestelle gefragt wird, ob sie aus politischen Gründen geflohen ist – sie müsste dann nur ein Kreuz machen, um in den Genuss zahlreicher Vorteile zu kommen –, lehnt sie dies ab. Auf der anderen Seite schafft sie es nicht, den Weg wieder zurück zu gehen. Geplante Treffen lässt sie platzen. Unbewusst hat sie sich entschieden. Erst als Ronald aktiv in der westdeutschen  DKP wird, erwacht bei ihr das aktive politische  Streiten erneut.
Das Werk ist ein Denkmal von Ronald M. Schernikau  für seine Mutter Ellen; zu spüren ist die Verbundenheit der beiden. Gepaart mit höchstem schriftstellerischem Niveau  macht es Lust auch mal wieder mehr von Schernikau zu lesen. Ein abschließendes aktuelles Interview mit Ellen Schernikau rundet dieses Buch ab. Ronald M. Schernikau versuchte Ende der 80er Jahre einen DDR-Verlag für das Buch zu finden, scheiterte aber am Tabuthema Republikflucht.
Einen gänzlich anderen Ansatz wählt Mathias Frings. Der in Berlin lebende Schriftsteller und Moderator beschreibt in einer Mischung aus Autobiographie, Biographie und Fiktion das Leben Ronald M. Schernikaus in Berlin und Leipzig. In Dialogen lässt er den Schriftsteller lebendig werden, zeigt ihn von der politisch-schriftstellerischen, aber auch – und das besonders gern – von der lebenslustigen kindlich extrovertierten Seite. Immer wieder bringt er dabei seine eigene Rolle und seine eigene Biographie ergänzend ein. Es ist die Sicht des Mathias Frings auf Schernikau, die geschildert wird, keine abstrakte aus der Entfernung geschriebene Geschichte. Sie ist subjektiv. Abgerundet wird das Buch durch immer wiederkehrende Rückblicke auf die Kindheit Schernikaus, die an „Irene Binz. Befragung“ bzw. den zuvor erschienenen Beschreibungen in „Legende“ orientiert sind.
Schernikau, in Berlin lebend, genießt das schwule Leben der 80er vor Beginn der AIDS-Krise. Ständig klamm, nur durch die Unterstützung seiner Mutter kommt er finanziell über die Runden, wird ihm der rheinische Kapitalismus sinnbildlich. Schon durch seine Mutter indirekt politisiert, ist er aktiv in der SEW, dem Westberliner Ableger der SED – dieses Engagement kann Frings nie wirklich nachvollziehen –, sieht sich selbst als Kommunist und betrachtet die DDR als ein gewisses Ideal einer Gesellschaft und deren Probleme als vorübergehende noch zu lösende Begleiterscheinungen. Schernikaus Versuche, die eigenen Arbeiten in der BRD oder Westberlin zu veröffentlichen scheitern – der Stil scheint zu abstrakt, die Werke zu unverdaulich. Er hält sich mit Essays und kleineren Projekten über Wasser.
Als sich das gesellschaftliche Klima ändert, die AIDS-Hysterie ausbricht, ändert sich auch die schwule Welt grundlegend. Jetzt ist wieder stärker politische Aktivität angesagt. Schernikau, der davon ausgeht, positiv zu sein, weigert sich, sich testen zu lassen – Heilung gebe es ja doch nicht. Eindrucksvoll beschreibt Frings dieses wichtige Stück jüngerer Geschichte, lässt Ohnmacht und Stärke gleichermaßen deutlich werden.  Die Zeit in Leipzig mit all ihren Widersprüchen – hier der westdeutsche Kommunist, der in der DDR ankommt, dort StudentInnen aus der DDR, die in der DDR aufwuchsen und, wie Schernikau in Westberlin, auch mit Problemen konfrontiert waren – empfindet Schernikau als befreiend. Hier eröffnet sich ein anderer Blick auf Geschichte, wie er derzeit praktisch nicht vorkommt. Leider gilt das auch für die Beschreibungen von Frings: Frings vermag die politische Einstellung Schernikaus nicht zu verstehen, weicht ihr aus, anstatt bei dieser wichtigen Facette Schernikaus intensiver nachzubohren. So bleibt Frings Auseinandersetzung mit Schernikau und seinem eigenen Bezug zu Schernikau diesbezüglich seltsam vage.  Das gilt auch für die konkrete Auseinandersetzung mit Texten von Schernikau. Über diese Texte, gegebenenfalls über ihre Entstehung und die dabei geführte Debatten mehr zu erfahren, wäre ertragreich gewesen.  So bleibt es Frings Sicht auf einen Freund, durchaus rund und gut lesbar, aber nicht so mutig, zwiespältig, zerrissen wie Schernikaus Werke selbst.

verfasst von Ralf Buchterkirchen, erschienen in „Rosige Zeiten“ (Dezember 2010 / Januar 2011), Download des Hefts hier.

PS: Eine Reihe von Ronald M. Schernikaus Essays, die Frings anspricht, sind unter dem Titel „Königin im Dreck“ erschienen.

Ronald M. Schernikau: Irene Binz. Befragung, Rotbuch, 2010.

Mathias Frings: Der letzte Kommunist – das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau, Aufbau-Verlag 2010.

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