(veröffentlicht in Rosige Zeiten 2007)
Wikipedia ist ein umstrittenes Projekt. Die einen schätzen die Erleichterung des Zugangs zu Wissen, andere bemängeln, dass jede mitschreiben könne und damit keine zuverlässigen Angaben diesem Online-Lexikon der neuen Art zu entnehmen seien. So schlecht scheint Wikipedia indes nicht zu sein: In einer Analyse der Zeitschrift „Stern“ (50, Dezember 2007) schnitt Wikipedia beim Informationsgehalt und insbesondere bei der Aktualität der Mehrzahl der untersuchten Artikel besser ab als das herkömmliche Lexikon „Brockhaus“ in seiner stets aktualisierten Online-Ausgabe. Wesentlicher Unterschied: das Wissen der Wikipedia ist kostenlos für jeden Menschen (mit Internet-Zugangsmöglichkeit) zugänglich und der Inhalt ebenfalls für jede veränderbar, wogegen der „Brockhaus“, von einem kleinen Kreis von Autorinnen und „Expertinnen“ erstellt, kostenpflichtig ist. Andere der untersuchten Wikipedia-Artikel – insbesondere historische – waren hingegen qualitativ indiskutabel.
Für die ROZ habe ich mir mal einige Artikel der für unser Themenrepertoire besonders relevanten Artikel angeschaut: „lesbisch“, „schwul“, „queer“, „Transsexualität“, „Transgender“, „Homosexualität“, „Bisexualität“, „Lesben- und Schwulenbewegung“, „Intersexualität“, „Sexualität“, „Sexualität des Menschen“. Mit Bedauern musste ich feststellen, dass es einen Artikel „Rosige Zeiten“ noch nicht gibt – was allerdings jede von uns ändern kann 😉
Die Artikel kennzeichnen sich durch eine sehr unterschiedliche Qualität. Allen gemein ist, dass sie – selbstverständlich – die Interessen der daran Schreibenden wiederspiegeln. So hat sich gerade der Artikel „Homosexualität“ zu einem Sammelsurium vielfältiger Spezialinteressen entwickelt. Dabei werden einzelne Themen kurz angeschnitten, meist reicht der Raum aber nicht für kritische Gedanken, sondern werden im Alltag (zumindest im lesBiSchwulTrans*-Alltag) weit verbreitete Allgemeinplätze vorgetragen. Dies liegt sicherlich in der Kultur von Lexika, mit einem offenen Lexikon ist aber mehr möglich – auch kritische Gedanken würde mensch bei solchen breit angelegten Thematiken erwarten. Der Artikel „Homosexualität“ gewährt auf jeden Fall einen ersten Einblick in die Vielfalt homosexueller Lebensweisen, und bietet erste weiterführende Literatur an. Für umfassende Betrachtungen sollten aber andere Quellen hinzugezogen werden. Bspw. eine Reise in die USA oder auch in andere Staaten der Erde könnte sich mit Wikipedia als einziger Quelle und dann offen gelebter schwuler, in weniger Ländern auch lesbischer, gleichgeschlechtlicher Sexualität als riskant oder tödlich erweisen, da die aufgeführte Liste der gesetzlichen Verfolgung von Homosexualität äußerst unzureichend ist.
Die Artikel zu „Sexualität“ und „Sexualität des Menschen“ stellen biologistische Ausführungen zu Fortpflanzung, insbesondere der Neukombination von Genen, in den Mittelpunkt. Nur bei „Sexualität des Menschen“ wird nachfolgend auf kulturelle Faktoren eingegangen. Mit beiden Artikeln wird der Glauben einer universellen und reproduktiven Sexualität bei („höheren“) Organismen gestärkt, werden biologistische Vorannahmen fortgeschrieben und damit auch der Glauben einer „Abnormität“ von gleichgeschlechtlichen Sexualitäten gestärkt. Der Artikel „schwul“ ist weder stilistisch noch inhaltlich ein Genuss und lässt vielfältige Themen unberücksichtigt – insbesondere Verweise für „Ratsuchende“ wären hilfreich.
Ganz anders, gut recherchiert, mit vielen tiefgründigen Informationen (allerdings selbstverständlich auch mit Lücken und Diskussionswertem) warten die Artikel „lesbisch“, „Transsexualität“, „Transgender“ und „Intersexualität“ auf. Bei diesen wird das Konzept von Wikipedia deutlich und umgesetzt: viele Köchinnen verfeinern und verbessern den Brei! Hier werden konsistente Artikel angeboten, die einen ersten fundierten Einblick aus mehreren Blickwinkeln gewähren und zu einem Weiterlesen an anderer Stelle anregen.
Deutlich wurde beim Nachschlagen: Wikipedia-Artikel sind von sehr unterschiedlicher Qualität, einige reichen nicht aus, um sich einen fundierten ersten Eindruck zu einer Thematik zu bilden, andere sind hingegen gut recherchiert, von vielen Interessierten verbessert und bieten vielfältige Literatur zum Weiterlesen an. Um dies zu unterscheiden lohnt sich in jedem Fall ein Blick in „Versionen/Autoren“ und in „Diskussion“. Damit erhält mensch zumindest einen Eindruck, wie umstritten einzelne Ausführungen sind und welche Veränderungen sich an einem Artikel vollzogen haben. Radikale Veränderungen von Artikeln von einem Tag auf den anderen sind möglich, Verweise auf Wikipedia als Quelle daher rasch veraltet. In jedem Fall sollte für tiefergehende Betrachtungen Wikipedia nur als erster Ausgangspunkt gewählt werden; das Hinzuziehen weiterer Quellen ist hierfür unablässig.
Einen besonderen Reiz und Wert von Wikipedia bildet die Möglichkeit für uns alle, an den Artikeln mitzuschreiben. Wir sollten dies auch viel häufiger tun, weil sich dann mit Wikipedia Chancen bieten, die Hoheit über verbreitetes „Wissen“ zu verschieben – von selbst ernannten „Expertinnen“ und in wenigen Händen liegenden Publikationsmöglichkeiten, hin zu einer für alle zugänglichen, aktuellen, diskutierten, rege fortentwickelten Wissensplattform. Diese kann und wird vermehrt durch weitere Plattformen ergänzt, auf denen tiefergehende Einblicke in Spezialgebiete gewährt und ggf. Fachdiskussionen sichtbar gemacht werden. Als solche ergänzende Plattform ist Gender@Wiki (http://www.genderwiki.de) zu empfehlen, an der auch ein Mitschreiben lohnt, was aber nicht von Wikipedia vollends ablenken sollte, denn Wikipedia ist vielgelesen und braucht etwas von unserem kritischen perversen Geist! 🙂
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