Archiv für Literatur

Jäcki und die Heere der Unempfindlichkeit. Zum 25. Todestag von Hubert Fichte

(von Salih Alexander Wolter; erschienen in Rosige Zeiten, Nr. 132 [März/April 2011])

Hubert Fichte - Portrait„Geilheit des Aufbruchs damals/ Traurigkeit heute“, notiert Hubert Fichte im März 1985 in Paris. Der Hamburger Schriftsteller, Ethnograph und Journalist hat dort mit seiner Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, seinen 50. Geburtstag gefeiert und will jetzt allein weiter nach Marokko. 15 Jahre zuvor, in seinem Radiofeature über das Treiben auf der Djemma el Fna, dem legendären „Platz der Gehenkten“, ließ er noch weg, was ihn nach Marrakech gezogen hatte – in der Bundesrepublik war der Schandparagraph eben erst gelockert worden. „Die Drohung mit dem KZ bis zum zehnten Lebensjahr, weil ich Halbjude war./ Die Drohung mit dem Zuchthaus, weil ich schwul war“: So hat er einmal zusammengefasst, wie er – der „Detlev“ seines ersten Romans Das Waisenhaus (1965) – die Kontinuität des Rechtsstaats erlebte. Zwar begann, seit er 1968 einem breiteren Publikum mit dem „Pop-Roman“ Die Palette bekannt wurde, nach Detlev der „Jäcki“ Gestalt anzunehmen, der – an seiner Seite „Irma“ mit ihrer Kamera – in Fichtes auf 19 Bände geplanter Geschichte der Empfindlichkeit nach St. Pauli noch andere Tropen erforschen will. Er hatte in den frühen 1960er Jahren in einer Pariser Sauna die Erfahrung gemacht, der er sein ganz eigenes Verständnis von „bi“ verdankte und auf die in seinem neuen Buch eine der „Ricardtanten“ anspielen wird („Ich sah Marcel Proust im Dampf“): Oral befriedigt von einem „alten Franzosen“ und gleichzeitig – zum ersten Mal – anal genommen von einem „jungen Araber“, genoss er „die Bewegung des Hin und Her, das Oszillieren zwischen den Polen“.  So jedenfalls interpretiert Peter Braun in seiner Reise durch das Werk von Hubert Fichte den Dreier und leitet daraus „eine Denkfigur für einen Raum dazwischen“ ab, in dem der Autor später auch seine „Darstellung der afroamerikanischen Religionen angesiedelt“ habe. Doch seinen wohl berühmtesten Satz sagte Jäcki – „von der Erfahrung der Djemma el Fna … beflügelt“, wie Braun annimmt – erst 1971, in Detlevs Imitationen „Grünspan“:  „Ich kann mir die Freiheit, wenn ich ehrlich bin, nur als eine gigantische, weltweite Verschwulung vorstellen…“ Weiterlesen

Wowi, Ole, Guido – Schwule Politiker auf dem Weg zur Normalität Zum neuen Buch von Andreas Heilmann: „Normalität auf Bewährung“.

(von Heinz-Jürgen Voß, erschienen in Rosige Zeiten, Nr. 132 [März/April 2011])

Andreas Heilmann - Normalität auf BewährungMittlerweile titeln Zeitschriften: „Politiker? Männlich? Schwul? Glückwunsch!“ (Stern, 25.08.2009) – Oder: „Deutsche haben nichts gegen schwule Politiker“ (Welt, 27.03.2010), wobei die Zeitschrift Welt sogleich das Bild einer liberalen westdeutschen Tradition anschloss: „Wird Guido Westerwelle deshalb so scharf kritisiert, weil er homosexuell ist? Die Geschichte schwuler Politiker in der Bundesrepublik gibt wenig Anlass zu dieser Vermutung. Denn das Land ist in dieser Frage verlässlich liberal – schon Adenauer war Homosexualität hauptsächlich ‚ejal‘.“
Alles ganz normal – oder? In jedem Fall lässt sich eine Normalisierung feststellen: Waren homosexuelle Frauen und Männer in „Deutschland“ lange Zeit Diskriminierungen ausgesetzt, wurden schwule Männer gar durch den § 175 lange Zeit verfolgt und mit Bezug auf diesen Paragraphen noch in den 1990er Jahren dutzende Männer wegen schwulem Sex verurteilt, so hat sich dieses Bild mittlerweile gewandelt. 1994 wurde der § 175 auch in den alten Bundesländern abgeschafft, 2001 die Eingetragene Lebenspartnerschaft eingeführt, die zumindest auf eine zunehmende Normalität von Homosexualität hinweist. Und zu Beginn des neuen Jahrtausends gab es eine Reihe von Politikeroutings – die eine breite mediale Resonanz erfuhren und zu einer steten Thematisierung von homosexueller Männlichkeit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit beigetragen haben. Weiterlesen

„Einer der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte“ – Doppelrezension zweier Bücher von und über Ronald M. Schernikau

von Ralf Buchterkirchen

irgendwer hat den leuten eingeredet, wir alle müssen sterben, das ist natürlich völliger humbug. keiner stirbt, wenn er nicht will, und jeder lebt, solange er weitermacht, das problem ist: die leute machen nicht.
R.M. Schernikau, Legende

Ronald. M. Schernikau, geboren 1960 in Magdeburg, ging 1965 mit seiner Mutter in den Westen. Mit 19 Jahren veröffentlichte er die   ‚Kleinstadtnovelle‘ – diese  Geschichte über Coming Out in der Provinz wurde sein erfolgreiches Debüt. Nach dem Abitur zog er nach Berlin, lernte dort unter anderem Mathias Frings und die Westberliner Polit- und Schwulenszene kennen. Jedoch versuchte er weitgehend erfolglos einen Verlag für seine späteren Arbeiten zu finden. 1987 gelang es ihm,  in der DDR, am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher, zu studieren. Als Abschlussarbeit entstehen „Die Tage in L“. In der DDR werden sie nicht gedruckt, ihr Erscheinen im Westen fällt mit dem Fall der Mauer zusammen. Im September 1989 wird Schernikau DDR-Bürger, arbeitet an der „Legende“ – seinem Hauptwerk. 1991 stirbt Ronald M. Schernikau mit 31 Jahren an AIDS.
Dieses Jahr sind zwei Bücher erschienen, die sich auf unterschiedliche Weise dem Leben Schernikaus zuwenden und die je sehr verschieden mit dem Leben des Künstlers verbunden sind. Mathias Frings zeichnet in ‚Der letzte Kommunist‘ anhand ihrer gemeinsamen Biographie das Leben des Ronald M. Schernikau höchst amüsant, aber auch nachdenklich nach.
‚Irene Binz. Befragung‘ ist hingegen die Lebensgeschichte von Ellen Schernikau, Ronalds Mutter, die sie ihm – er war damals 21 Jahre alt – in langen Interviews erzählte und zum Geschenk machte. Gut lesbar, mit dem Eindruck der Naivität sichtlich spielend, hat Ronald M. Schernikau diese Interviews in einen Roman verwandelt. Beide Bücher bilden einen spannenden unverstellten Blick auf deutsch-deutsche Geschichte und beschreiben direkt und indirekt einen der spannendsten Schriftsteller der jüngeren Geschichte. Aber der Reihe nach: Weiterlesen

Weder Gott noch Gen. Heinz-Jürgen Voß´ „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“

(Rezension von Salih Alexander Wolter, vorab aus „red & queer“, Nr.19 [2011]; die Rezension ist online bei „Leipziger Kritiken“ – , Veröffentlichung mit freundlicher Zustimmung der Redaktion und von Salih Alexander Wolter)

Geschlecht: Wider die NatuerlichkeitVorweg: Unvoreingenommen kann ich dieses Buch nicht besprechen. Ich bin mit seinem Autor seit langem eng befreundet, habe ihn darin bestärkt, es zu schreiben, und selbst gern das Lektorat übernommen – honorarfrei, versteht sich. Denn ich hoffe, dass es zu einer fruchtbaren Diskussion über das Verhältnis von Queer Theory und Marxismus beitragen wird. Mögliche Anschlüsse bietet eine Einsicht, die Robert Steigerwald bereits 1987 im „Blauen Heft“ formulierte, das auf www.dkp-queer.de verfügbar ist: „Im Menschen wirkt kein Dualismus von biologisch angeborenen Verhaltensweisen einerseits und gesellschaftlichen andererseits, sondern Gesellschaftlichkeit wurde zu unserer Natur und bestimmt sämtliche unserer Verhaltensweisen.“
Heinz-Jürgen Voß, eben 31 geworden, gebürtiger Sachse und in der queer-politischen Szene seit Jahren als quirliger linker Aktivist bundesweit bekannt, ist Diplom-Biologe und promovierte im vorletzten Dezember „summa cum laude“ bei dem Sexualwissenschaftler Rüdiger Lautmann in Bremen. Diese Dissertation – unter dem Titel „Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ vor Jahresfrist veröffentlicht – wird seither ungewöhnlich breit und kontrovers rezipiert und geht demnächst in die dritte Auflage. „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“ stellt einerseits eine auch für Nicht-Fachleute gut verständliche Zusammenfassung der Studie dar und nimmt andererseits die laufende Debatte auf, in der sich Voß gegen die verbreitete Tendenz stellt, „subversives“ queeres Denken mit der kapitalistischen Ordnung zu versöhnen. Dabei ist seine inzwischen deutlich marxistische Positionierung seinem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet: Statt sich mit den gängigen „Eindeutschungen angloamerikanischer Herrschaftskritiken, die zu praxisfreien Denkmodellen umgemodelt wurden“, zu begnügen, zeigt er – wie ein Fach-Rezensent des Erstlings lobte – „klar und deutlich, wie Wege der Erkenntnis in Zukunft zu beschreiten sind: nicht vereinfachend, sondern komplex, multikausale Ursachen erwägen, materielle Aspekte nicht vergessen, stets die Frage `Cui bono?´“. Weiterlesen

Ein schwuler „Anti-Orientalist“. Der spanische Autor Juan Goytisolo wird 80

(von Salih Alexander Wolter, erschienen in „Rosige Zeiten„, Dezember 2010 / Januar 2011, Download des Hefts hier; Veröffentlichung mit freundlicher Zustimmung von Salih Alexander Wolter)
Eine deutlich erweiterte Fassung des Beitrags findet sich unter dem Titel „Türkisch lernen mit Juan Goytisolo“ auf www.salihalexanderwolter.de.

Einer meiner Lieblingssätze von Juan Goytisolo steht in keinem seiner Bücher, sondern in  Die brennende Bibliothek von Edmund White, der ihn in den 1980er Jahren für ein Interview im zentralen Pariser Viertel Le Sentier besuchte. Das gilt dem am 5. Januar 1931 in Barcelona geborenen  Schriftsteller mit baskischen Wurzeln,  der international als einer der innovativsten Romanciers spanischer Sprache mit Preisen bedacht wurde, als „die Definition von Großstadt schlechthin“. Dort war er – mochte er zuletzt auch immer ausgedehntere Reisen in die sogenannte islamische Welt unternehmen – vier Jahrzehnte lang zu Hause: seit er 1956 Francos Spanien verließ, dessen noch vom Bürgerkrieg traumatisierte Gesellschaft und desorientierte Jugend unter dem faschistischen Regime er in seinem Frühwerk schilderte. Er zog  bei Monique Lange ein, die der Kommunistischen Partei angehörte und für den Verlag Gallimard arbeitete – wie dann bald auch er, der als Lektor besonders die lateinamerikanische Literatur förderte. Monique, die später selbst als Autorin hervortrat, machte ihren Gefährten mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir bekannt, führte ihn in den Kreis um Marguerite Duras ein und vermittelte ihm die für sein weiteres Leben entscheidende Freundschaft mit Jean Genet. Jahre nachdem Goytisolo ihr offenbart hatte, „völlig, endgültig, unwiderruflich homosexuell“ zu sein, heirateten sie, und erst nach ihrem Tod 1996 sollte er ganz nach Marrakech übersiedeln. Mit  White sprach er über die vertraute Umgebung des Paars: „Nachdem so viele Türken in das Viertel gezogen waren, entdeckte ich eines Tages beim Spazierengehen, dass ich nicht verstand, was an die Wände geschrieben war.“ Und es folgt: „Da ich mich in dieses Viertel vollkommen integriert fühle, beschloss ich, das zu tun, was notwendig war, nämlich Türkisch zu lernen.“  Weiterlesen

Die Kette – und das Schiff, das Meer, die ganze Welt Zum 100. Geburtstag von Jean Genet

(von Salih Alexander Wolter, erschienen in Rosige Zeiten, Nov./Dez. 2010; Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors)

„O nein“, antwortete Jean Genet 1975 in einem seiner seltenen Interviews Hubert Fichte auf die Frage, ob er ein revolutionäres Konzept der Sexualität habe. Dabei scheint das ebenso ein Gemeinplatz zu sein wie der andere, um den man auch zum hundertsten Geburtstag Genets kaum herumkommen wird: dass die „Biographie des Autors … hier untrennbarer Teil des Werkes“ sei, wie es in Fritz J. Raddatz´ Aufsatz über Querelle in der ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher heißt. `Ihr sagt, ich sei schwul – ich sage: Ich bin der Schwule´, lautete schließlich das Credo dieses `heiligen Monsters´ der französischen Literatur, das der Philosoph Jean-Paul Sartre 1952 in einer monumentalen Studie als Saint-Genet des Existentialismus kanonisierte. Da war die Handvoll Romane schon geschrieben – überwiegend im Gefängnis, zum Teil auf Toilettenpapier, wie kolportiert wurde –,  denen der am 19. Dezember 1910 in Paris geborene ehemalige Fürsorgezögling, Stricher und Kleinkriminelle den Einsatz einiger der angesehensten Intellektuellen des Landes für seine Begnadigung verdankte, als ihm nach einem `Rückfall´ (er hatte ein Buch gestohlen!) lebenslange Haft drohte. Er arbeitete danach noch sehr erfolgreich als Dramatiker, bevor er sich in den 1960er-Jahren wieder aus dem Kulturbetrieb zurückzog. Genet schrieb kaum noch etwas,  lebte ohne festen Wohnsitz in kleinen Pariser Hotels oder bei seiner Wahlverwandtschaft in Marokko und machte gelegentlich Schlagzeilen mit seinem radikalen politischen Engagement – etwa, als er illegal in die USA einreiste, um die Black Panther zu unterstützen, oder sich den palästinensischen Fedajin anschloss (darüber verfasste er dann kurz vor seinem Tod 1986 doch noch einen großen poetischen Bericht). Mit dem neuen Homo-Selbstbewusstsein, das sich nach Stonewall in den westlichen Metropolen artikulierte, konnte er dagegen nichts anfangen – vielleicht, weil er für sich, wie Raddatz meint, unsere Gesellschaft am überzeugendsten verwarf, indem er sie so annahm, wie sie ist. „Revolutionär – nein“, wiederholte er gegenüber Fichte und fügte unvermittelt hinzu: „Der Umgang mit Arabern hat mich im Allgemeinen meistens glücklich gemacht und mich befriedigt.“ Weiterlesen

„Ich war Mann und Frau – Mein Leben als Intersexuelle“ Autobiographie von Christiane Völling

(aus Rosige Zeiten, Nov./Dez. 2010; von Heinz-Jürgen Voß)

Christiane Völlings Name ist vielen geläufig durch ihren Gerichtsprozess, bei dem sie gegen einen Chirurgen eine Schadensersatzforderung durchsetzte. Im Jahr 2009 ging der Prozess mit der Festlegung der Höhe des Schadensersatzes endgültig zu Ende. Völling hatte geklagt, weil ihr der behandelnde Mediziner, als sie 17 Jahre alt war, – ohne Aufklärung – Eierstöcke und Gebärmutter entnommen hatte. Erst im Alter von 46 Jahren kam Christiane Völling langsam hinter die ganze Wahrheit der medizinischen Behandlungen, denen sie auch zuvor bereits als Kind unterzogen wurde – und auch das Recht, die ganze Wahrheit zu erfahren, war Kampf…
Nun legt Völling ihre Autobiographie vor. Sie beschreibt ihre Kindheit als Junge, ihr Leben als Mann – und die spätere Gewissheit, dass sie von Geburt an eine Frau war, mit XX-Chromosomensatz, Eierstöcken und Gebärmutter, – aber mit AGS, einer Variante von Intersexualität: „Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Intersexualität? Ich stellte keine Fragen, nahm aber den Flyer […] Das war im Oktober 2005, ich war 46 Jahre alt. Das Wort ‚Intersexualität‘ hatte ich noch nie gehört. 46 Jahre hatte es gedauert, bis mir vage aufging, dass es vielleicht noch andere Menschen gab, die so ‚anders‘ waren wie ich.“ (S.8) Weiterlesen

Heinz-Jürgen Voß: Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive

Rezension von Johannes Ungelenk; zuerst erschienen in „Rosige Zeiten“ (Nr. 129, September/Oktober 2010), hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Johannes Ungelenk und der Redaktion.

Die Ausgangslage ist spannend: hatte Thomas Laqueurs Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud die Geschichte der Konstitution ‚biologischen‘ Geschlechts erzählt, scheint Heinz-Jürgen Voß, als diplomierter Biologe, prädestiniert einen Beitrag zu diesem Projekt beizusteuern auf den viele Lese_rinnen Laqueurs sehnsüchtig warten dürften: eine Analyse der Konstitution von ‚biologischem‘ Geschlecht in kontemporären biologisch-medizinischen Theorien und Praktiken. Tatsächlich gipfelt Heinz-Jürgen Voß‘ Buch in einem dritten, abschließenden Kapitel zu Theorien der Geschlechtsdetermination in aktueller medizinisch-biologischer Forschung. In den beiden vorbereitenden Kapiteln wendet er sich, wie der Titel schon erwarten lässt, Thomas Laqueurs Projekt zu. Jedoch nicht mit dem Vorhaben, es zu referieren um lediglich ein Kapitel ergänzen zu können. Er wendet sich dem Projekt zu, um einen zweiten, ruhigeren und aufmerksameren Blick auf das zu werfen, was auch Laqueur für seine Geschichte zur Verfügung gestanden war – Theorien zu ‚biologischem‘ Geschlecht vom antiken Griechenland bis heute. Voß tut dies mit einer etwas anderen Perspektive und einem signifikant anderen Ziel: hatte Laqueur wie Foucault eine Geschichte der Brüche fabriziert, eine strategische Erzählung, deren Relevanz sich aus ihrer eigenen Performanz speist, legt Voß eine in chronologischer Reihenfolge geordnete, bunte Enzyklopädie vor, die die Theorien in knappen Skizzen möglichst getreu abzubilden versucht. Die dabei vorsichtig ausgemachten Trends erzählen keine progressive Geschichte, auch wenn die Betonung von „Wandel und Kontinuität“ ein lineares Geschichtsbild impliziert. Die Ideale dieses Vorgehens sind dementsprechend andere als die Laqueurs: während das Corpus Laqueurs aus dem besteht, was der Erzählung zuträglich ist, beansprucht eine Enzyklopädie größtmögliche Vollständigkeit und getreue Abbildung. Voß‘ Corpus ist folglich deutlich umfassender, kleinteiliger strukturiert, die Auswahl der Texte vermeidet die exklusive Fokussierung auf spezifische Bereiche wie Physiologie oder Anatomie, um auch Verschiebungen der betrachteten Merkmale aufzeigen zu können. Weiterlesen

„Sein ganzer Traum von Männlichkeit“. Cem Yildiz sagt, wo es langgeht

(rezensiert von Salih Alexander Wolter, erscheint in „Rosige Zeiten“ (Nr. 128, April/Mai 2010, vorab online mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)

Cem Yildiz ist in Berlin-Schöneberg zu Hause, wo Trends für den schwulen Mainstream der Bundesrepublik gesetzt werden – nur beruflich war er lange Zeit „vom Outfit her eher Neukölln“ (S. 24). Heute ist er 31 und absolviert eine Ausbildung zum Heilpraktiker. Er bekundet, selbst nie ein Problem damit gehabt zu haben, auch auf Männer zu stehen, und sagt, er raste aus, wenn er mitbekomme, dass „Homos zusammengeschlagen, bedroht und blöd angemacht“ werden (S. 39). Wenn es ungewollt geschieht, wäre hinzuzufügen. Denn mit seinem Bericht Fucking Germany. Das letzte Tabu oder Mein Leben als Escort bietet er eine gänzlich andere als die in den Medien gepflegte Perspektive auf das Thema „Schwule als Opfer“ bzw. „hypermaskuline Jugendliche nichtdeutscher Herkunft“ als Täter. Doch Yildiz kann auf zuverlässiges empirisches Material zurückgreifen: Über ein Jahrzehnt gab er – der „kein Akademikerkind“ ist, aber „auch nicht aus einer Problemfamilie“ stammt (S. 216) – auf Bestellung  „den ‚authentischen‘ knallharten Türkenmacker von der Straße“ (S. 13), in Berlin und auf Kurztrips auch andernorts im Land. Bezahlt wurde er dafür vor allem von homosexuellen Männern, und besonders gern buchten die ihn für die „Ghetto-Nummer“ (S. 24) – inszenierte Überfälle mit anschließender brutaler Vergewaltigung. Seine Erfahrung: „Je krasser die Filme und Klischees, die sie im Kopf haben, desto höher die Nachfrage nach dem wilden, gewalttätigen Ali.“ (S. 64) Weiterlesen

Stefanie Herbst, Juna Brock: „Guilty Pleasure – Heimliches Verlangen“

von Heinz-Jürgen Voß, erschienen in „Rosige Zeiten“ (Oldenburg), Heft 125.

„Guilty Pleasure“ – es gibt tatsächlich eine Band mit diesem Namen. Aber das tut weniger etwas zur Sache – vielmehr werden wir entführt in warme, einfühlsame und erotische Gedanken. Es geht um den Frontsänger Dice einer Band „Guilty Pleasure“ und dessen Bodyguard Ceely. In vollen Zügen werden die anreizenden körperlichen Merkmale beider beschrieben. Und aufreizend ist auch dieses Buch – eine wundervolle, anregende und kurzweilige Lektüre, die für einen unbekümmerten und erotischen Abend wie geschaffen ist.
In vollen Zügen wird die Affäre von Dice und Ceely beschrieben. Aufregend ist dabei manches: Die Beschreibungen, wann und wo und insbesondere wie beide miteinander Sex haben; und das vor dem Hintergrund, dass Dice in dieser bekannten und erfolgreichen Band singt und insbesondere von Teenies weiblicher Sozialisation angehimmelt wird. Entsprechend soll ihre Affäre nicht bekannt werden und schrammen sie verschiedentlich nur knapp daran vorbei, doch aufzufliegen. Gleichzeitig spielen sie mit dieser Situation: Geilen den jeweils anderen bei Konzerten und öffentlichen Auftritten auf, spielen mit der Lust und dem Verlangen des jeweils anderen.
Geht es zunächst nur um tollen, schnellen Sex – wird alles bald komplizierter. Es ist der Geruch, die Leidenschaft, das Kennenlernen, das in eine Badewanne mit reichlichem Rosenduft treibt… und bald beide die Sehnsucht nach dem jeweils anderen verzehrt, wenn sie nicht beieinander sein können, miteinander spielen können, den anderen aufreizen können.
Die Entwicklungen und das Ende der Geschichte sind überraschend. Juna Brock und Stefanie Herbst ist ein schönes Stück gelungen: „Guilty Pleasure – Heimliches Verlangen“. Erschienen im Oktober dieses Jahres im Dead Soft Verlag bietet es gute Unterhaltung.

ISBN 978-3934442511, 152 Seiten, 12,80 Euro.