„Ich war Mann und Frau – Mein Leben als Intersexuelle“ Autobiographie von Christiane Völling

(aus Rosige Zeiten, Nov./Dez. 2010; von Heinz-Jürgen Voß)

Christiane Völlings Name ist vielen geläufig durch ihren Gerichtsprozess, bei dem sie gegen einen Chirurgen eine Schadensersatzforderung durchsetzte. Im Jahr 2009 ging der Prozess mit der Festlegung der Höhe des Schadensersatzes endgültig zu Ende. Völling hatte geklagt, weil ihr der behandelnde Mediziner, als sie 17 Jahre alt war, – ohne Aufklärung – Eierstöcke und Gebärmutter entnommen hatte. Erst im Alter von 46 Jahren kam Christiane Völling langsam hinter die ganze Wahrheit der medizinischen Behandlungen, denen sie auch zuvor bereits als Kind unterzogen wurde – und auch das Recht, die ganze Wahrheit zu erfahren, war Kampf…
Nun legt Völling ihre Autobiographie vor. Sie beschreibt ihre Kindheit als Junge, ihr Leben als Mann – und die spätere Gewissheit, dass sie von Geburt an eine Frau war, mit XX-Chromosomensatz, Eierstöcken und Gebärmutter, – aber mit AGS, einer Variante von Intersexualität: „Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Intersexualität? Ich stellte keine Fragen, nahm aber den Flyer […] Das war im Oktober 2005, ich war 46 Jahre alt. Das Wort ‚Intersexualität‘ hatte ich noch nie gehört. 46 Jahre hatte es gedauert, bis mir vage aufging, dass es vielleicht noch andere Menschen gab, die so ‚anders‘ waren wie ich.“ (S.8)
So beginnt Christiane Völling ihre aufgeschriebene Lebensgeschichte. Sie unterteilt in zwei Szenerien, die sich miteinander abwechseln und schließlich zusammenlaufen. Eine ist aktuell und beschreibt, wie sie, ausgehend von einer Studie zu „Intersexualität“, ab dem Alter von 46 Jahren langsam dahinter kam, was eigentlich mit ihr los war und sie im falschen Geschlecht lebte, – in dem eines Mannes, das zudem gewalttätig über zahllose Operationen hergestellt wurde, Operationen die stets weitere Untersuchungen und Operationen notwendig machten. Die zweite Szenerie wendet sich den Erlebnissen der Kindheit, Jugend und dem Leben als Erwachsene bis zum 46. Lebensjahr zu, – Völling beschreibt eingehend die vielen kleinen und riesengroßen Demütigungen, die sie  erleben musste und die sie nicht einordnen konnte.
Völling wuchs in einem streng katholischen Elternhaus auf, als Junge mit dem Namen Thomas. Ihre Geschwister waren wesentlich älter als sie, lediglich ein Mädchen kam nach ihr. Mit ihr und ihren Puppen spielte sie gern, selbst hatte sie nicht einmal einen Teddy. Mit den Jungen aus der Nachbarschaft war sie hingegen nur ungern zusammen, fügte sich aber, wenn ihr Vater ihr aufgab, rauszugehen und mit den anderen Jungen zu spielen. In ihrer Familie wurde nicht viel geredet, über Geschlecht schon gar nicht. So stieß Völling bereits als kleines Kind gegen Mauern des Schweigens, als etwa im Alter von fünf Jahren, ihre Geschlechtsteile zu wachsen begannen und sich Schamhaare bildeten. Körperlich wuchs sie insgesamt viel schneller als die anderen Kinder in der Nachbarschaft. Einschneidend war das Erlebnis der Schuleinführung: So sehr wie sie sich auf die Schule gefreut hatte, wurde ihr diese gleich bei der Einführungsfeier verleidet. Einen Kopf größer als die anderen Kinder, war Völling für die anderen Kinder eine zu bestaunende Rarität und für deren Eltern ein Ziel des Spotts: „‘Komm, Hansi, du brauchst nicht neben einem Riesen sitzen, hier drüben ist auch noch ein Stuhl frei‘“ (S.37). Die Klassenkameradinnen und -kameraden gewöhnten sich rasch an Thomas und dessen Größe, Thomas blieb dennoch Außenseiter. Mit einem neuen Klassenlehrer ab der dritten Klasse setzte dann das pure Grauen ein…
Eine andere Quelle der Diskriminierung war der Dorfarzt, den Völling äußerst unangenehm in Erinnerung hat, – schon für die Zeit bevor er wesentlich dazu beitrug, dass Thomas im Teenager-Alter ernsthaft darüber nachdachte, sich das Leben zu nehmen… Das einschneidende Gespräch beschreibt Christiane Völling wie folgt: „Er lachte nervös und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, begann, den Raum zu durchwandern. Mit dieser Hartnäckigkeit hatte er nicht gerechnet. ‚Ja, wie soll ich Dir sagen …‘ Er lachte kurz auf. Dieses sarkastische Lachen passte schon wieder besser zu seiner sonstigen Art. ‚Was sagen?‘, fragte ich nach, als er nicht weiterredete. Das was er dann sagte, sollte mein Leben für immer verändern: ‚Na gut, Du bist kein Mann‘, er machte eine Pause, ‚und du bist aber auch keine Frau … Du bist ein Zwitter!‘ Er lachte erneut auf. ‚So was gibt’s eigentlich gar nicht. Höchstens bei einer zu einer Million Geburten. Unglaublich!‘ Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und grinste zu mir herab. ‚Da kann man nichts machen. Das ist halt so. Damit musst Du leben.‘ Ich verstand nicht, was daran lustig war, aber er lachte wieder. […] ‚Tja, Thomas, solche Menschen wie dich hat man früher auf dem Jahrmarkt ausgestellt und damit Geld verdient. Das kannst du ja auch mal ausprobieren, da bist du eine Sensation, eine Kuriosität!‘ Er lachte und lachte.“ (S.59)
Aus solchen Passagen wird auf bedrängende Art deutlich, wie sich Thomas gefühlt haben muss. Im Elternhaus wurde noch immer nicht geredet, aber nun fühlte sich Thomas als Monster. Weitere medizinische Behandlungen gaben Zuversicht: Die Ärzte sagten ‚Da kann man was machen!‘. Das gab Thomas wieder Hoffnung, führte aber auch zu der verhängnisvollen Operation – und zu vielen weiteren Untersuchungen und Operationen. Aber nicht nur das schildert Völling als eindringliche Erinnerungen. Sie beschreibt auch, wie sie vor einer Horde von Studierenden und neben den Patienten im Behandlungszimmer des Krankenhauses dazu genötigt werden sollte, ihre Genitalien als „Anschauungsobjekt“ zu zeigen, also selbst als „Beleg“ zu dienen. Auch das im Teenager-Alter… Und uns wird da schon der Mut und die Kraft von ihr fassbar: Sie widersprach dem Professor und zeigte ihre Genitalien nicht. Er begann dann ohne „Anschauungsmaterial“, direkt neben ihr, vor den anderen Patienten, die mit im Behandlungszimmer lagen, über ‚Störungen‘ bei der Entwicklung von Genitalien zu sprechen… Schamgrenzen kannten die Medizinerinnen und Mediziner nicht, auch nicht, als Thomas am nächsten Tag genötigt wurde, die Genitalien fotografieren zu lassen.
Völling führt klar vor Augen, wie menschenunwürdig der Umgang mit ihr war und er mit anderen Intersexuellen war und noch immer ist. Dass was in den vielen Zeitungsartikeln der letzten Monate oft sehr abstrakt verhandelt wurde, schildert Völling auf eine Weise, die ein Einfühlen ermöglicht, die beim Lesen deutlich macht, wie dringend eine Änderung solcher Behandlungspraxen ist, – „medizinisch“ kann man solche Behandlungen nicht nennen, weil sie ganz offensichtlich nicht am Wohl des behandelten Menschen orientiert sind. In die größere allgemeine Perspektive der Behandlung von Intersexualität bindet Völling ihre Autobiographie selbst ein. Gut lesbar und ohne Vorwissen nachvollziehbar gibt sie – fast beiläufig – Einblicke in die Historie des juristischen und medizinischen Umgangs mit Intersexuellen.
Aber Völling macht nicht allein eindringlich auf das Leid aufmerksam, dass ihr wegen der Behandlungen durch die Medizin widerfuhr; sie zeigt ihren mutigen und kraftvollen Weg, mit dem sie für ihr eigenes Recht kämpft. Sie wich nicht zurück, als ihr Akteneinsicht verweigert werden sollte, sie setzte das Gerichtsverfahren gegen den Chirurgen durch, sie erstritt sich – auch dies gegen viele Hürden – die Korrektur der Geburtsurkunde in weibliches Geschlecht, sie machte ihre Geschichte in Zeitschriften und im Fernsehen öffentlich – obwohl sie nicht gern im Rampenlicht steht, wie sie mehrfacht schreibt –, und nun setzt sie mit diesem kraftvollen Buch nach, das ein Plädoyer für einen menschlichen Umgang mit Intersexuellen ist. Dabei verweist sie darauf, wie wichtig ihr das Zusammentreffen mit anderen Intersexuellen war und ist. Durch den Kontakt mit den XY-Frauen (www.xy-frauen.de) wurde ihr klar, dass sie nicht allein ist, – und sie beschreibt, wie gut ihr die Demonstration – organisiert von der Schweizer Gruppe Zwischengeschlecht, www.zwischengeschlecht.org – vor dem Gerichtsgebäude zur Verhandlung des Prozesses gegen den Mediziner tat.
Christiane Völling nimmt mit ihrem Buch und ihrem gezeigten Mut uns auch in die Pflicht:

  • Wir alle haben wahrzunehmen, dass es Intersexuelle gibt und dass ihnen noch immer oft schwere, unvorstellbare Gewalt angetan wird, – in der Bundesrepublik Deutschland, also jetzt und hier.
  • Wir haben uns nach unseren Möglichkeiten für die Rechte von Intersexuellen einzusetzen. Nicht viele haben so viel Mut wie Christiane Völling, daher: Alle nach ihren Möglichkeiten, aber das konsequent! Schon das Sprechen mit Verwandten und Bekannten und das Unterstützen der Forderungen von Intersexuellen an anderer Stelle können hilfreich sein.
  • Schwule, Lesben, Trans*-People und Queers dürfen Intersexuelle nicht einfach immer nur an ihren Forderungskatalog anfügen, wie es oft geschieht. Vielmehr geht es darum, ehrlich für die Rechte von Intersexuellen zu streiten, und dass auf eine Weise, bei der stets die Stimme der intersexuellen Menschen selbst hörbar ist und sie selbst bestimmen, was gefordert wird. Es geht also um Unterstützung, statt um Vereinnahmung.

Und nun wünsche ich eine gute Lektüre des äußerst lesenswerten und aufrüttelnden Buches von Christiane Völling: „Ich war Mann und Frau – Mein Leben als Intersexuelle“. (erschienen im Fackelträger Verlag, ISBN 978-3-7716-4455-0, Preis: 19,90 EUR)

 

Wichtige Homepages im Internet:

Intersexuelle Menschen e.V.
Zwischengeschlecht.info
XY Frauen

Filme zu den Erfahrungen intersexueller Menschen:

Tintenfischalarm
Das verordnete Geschlecht
Die Katze wäre eher ein Vogel
XXY

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert