Tag Archiv für Liebe

Schwule Klassenkenntnis: Perihan Mağdens «Ali und Ramazan»

(Salih Alexander Wolters Rezension zu Perihan Mağdens Roman Ali und Ramazan erscheint gedruckt in Rosige Zeiten, Ausgabe Mai/Juni 2012. Im Folgenden eine leicht überarbeitete Fassung von: http://salihalexanderwolter.blogsport.de.)

 

Der packendste «schwule» Roman seit langem ist von einer Frau und kommt aus der Türkei: Ali und Ramazan von Perihan Mağden, einer prominenten gesellschaftskritischen Autorin und Kolumnistin, war dort 2010 «Buch des Jahres» und stand monatelang auf der Bestsellerliste, der Film dazu kommt demnächst in die Kinos. Hierzulande hat diese Geschichte bei einigen Rezensenten – das Wort muss, soweit ich die erschienenen Artikel überblicke, in diesem Fall nicht gegendert werden – Anstoß erregt. Aus stilistischen Gründen, wie sie sagen. «Kitsch» lautet da ein Vorwurf, der sich ästhetisch gibt, auch wenn er hier nur schlecht kaschieren kann, dass es die politische Aussage ist, die nicht gefällt. Als Beleg schreiben sie einer vom anderen diese unschuldige Stelle ab: «Ali und Ramazan vereinigen sich erstmals in jener Nacht, auf dem Bettsofa des Herrn Direktor, und das wieder und wieder, bis zum nächsten Morgen. Sie werden eins. Werden zu Ali und Ramazan. Bis in alle Ewigkeit. Bis zum Ende ihrer viel zu kurzen Ewigkeit.» Weiterlesen

So sehr, wie es nur geht …Perihan Mağdens «Ali und Ramazan»

(rezensiert von Heinz-Jürgen Voß, zuerst bei www.kritisch-lesen.de)

„Ali und Ramazan“ ist eine Liebesgeschichte, die fernab jeder Schnulze daher kommt. In klarer aber reicher Sprache erzählt die Autorin Perihan Mağden darin die Geschichte der zwei Jungs Ali und Ramazan, die in einem Waisenhaus aufwachsen und sich dort ineinander verlieben und so die Zumutungen, mit denen sie konfrontiert werden, überstehen – bis es nicht mehr weitergeht. Neben einer einfühlsamen, vor Freude und Traurigkeit zu Tränen rührenden Liebesgeschichte, die sich an einer wahren Begebenheit orientiert, fundiert der Roman literarisch die aktuellen wissenschaftlichen Debatten, die sich mit der ökonomischen Ausgrenzung von Menschen und der Zementierung menschlichen Miteinanders zu starren Identitäten befassen. Im Jahr 2010 wurde „Ali und Ramazan“ zum Buch des Jahres in der Türkei gewählt. Nun liegt es in einer deutschen Übersetzung vor, erschienen im Suhrkamp-Verlag. Weiterlesen

Karl Heinrich Ulrichs „Der erste Schwule der Weltgeschichte“

(von Heinz-Jürgen Voß, in gekürzter Fassung erstveröffentlicht in „Die Lupe“ (Juni/Juli 2011), Zeitschrift von Die.Linke, Bezirksverband Berlin Tempelhof-Schöneberg. Die vollständige Ausgabe findet sich hier.)

 

Was uns heute als so offensichtlich erscheint, dass man entweder zu einem gewissen Zeitpunkt sein „Coming out“ als homosexuell oder bisexuell hat oder sich ansonsten quasi selbstverständlich als heterosexuell verortet, ist in der Geschichte noch nicht alt. Erst im 19. Jahrhundert (erste Indizien dafür gab es schon etwas früher) kamen solche Identitätsformen auf, mit denen Menschen bereits von Geburt an, oder auf Grund früher Erfahrungen, „schwul“, „lesbisch“ oder „einfach heterosexuell“ seien, weitere Merkmale sollten sich anschließen – so ein gewisser Lebensstil, bestimmte Charaktermerkmale und Verhaltensweisen. Kennzeichnend war für solche Betrachtungen, dass „Homosexuelle“ als „anders“ und „unnormal“, ja sogar als „krank“, neben vermeintlich „normal“-Begehrende gestellt wurden. (Vgl. Klauda 2008.) Erst 1992 wurde Homosexualität aus dem Katalog der Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestrichen.
Zuvor war es gewiss auch nicht rosig – wegen gleichgeschlechtlichem Sex (und auch für andere „Delikte“ wie Sex mit Tieren) konnte man mit Verweis auf Sodomie-Paragrafen verurteilt werden, mit harten Strafen, bis hin zum Tod. Allerdings knüpfte sich eben keine starre Identität an den getätigten sexuellen Akt – „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (Foucault nach: Klauda 2008: S.10f) Weiterlesen

Jäcki und die Heere der Unempfindlichkeit. Zum 25. Todestag von Hubert Fichte

(von Salih Alexander Wolter; erschienen in Rosige Zeiten, Nr. 132 [März/April 2011])

Hubert Fichte - Portrait„Geilheit des Aufbruchs damals/ Traurigkeit heute“, notiert Hubert Fichte im März 1985 in Paris. Der Hamburger Schriftsteller, Ethnograph und Journalist hat dort mit seiner Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, seinen 50. Geburtstag gefeiert und will jetzt allein weiter nach Marokko. 15 Jahre zuvor, in seinem Radiofeature über das Treiben auf der Djemma el Fna, dem legendären „Platz der Gehenkten“, ließ er noch weg, was ihn nach Marrakech gezogen hatte – in der Bundesrepublik war der Schandparagraph eben erst gelockert worden. „Die Drohung mit dem KZ bis zum zehnten Lebensjahr, weil ich Halbjude war./ Die Drohung mit dem Zuchthaus, weil ich schwul war“: So hat er einmal zusammengefasst, wie er – der „Detlev“ seines ersten Romans Das Waisenhaus (1965) – die Kontinuität des Rechtsstaats erlebte. Zwar begann, seit er 1968 einem breiteren Publikum mit dem „Pop-Roman“ Die Palette bekannt wurde, nach Detlev der „Jäcki“ Gestalt anzunehmen, der – an seiner Seite „Irma“ mit ihrer Kamera – in Fichtes auf 19 Bände geplanter Geschichte der Empfindlichkeit nach St. Pauli noch andere Tropen erforschen will. Er hatte in den frühen 1960er Jahren in einer Pariser Sauna die Erfahrung gemacht, der er sein ganz eigenes Verständnis von „bi“ verdankte und auf die in seinem neuen Buch eine der „Ricardtanten“ anspielen wird („Ich sah Marcel Proust im Dampf“): Oral befriedigt von einem „alten Franzosen“ und gleichzeitig – zum ersten Mal – anal genommen von einem „jungen Araber“, genoss er „die Bewegung des Hin und Her, das Oszillieren zwischen den Polen“.  So jedenfalls interpretiert Peter Braun in seiner Reise durch das Werk von Hubert Fichte den Dreier und leitet daraus „eine Denkfigur für einen Raum dazwischen“ ab, in dem der Autor später auch seine „Darstellung der afroamerikanischen Religionen angesiedelt“ habe. Doch seinen wohl berühmtesten Satz sagte Jäcki – „von der Erfahrung der Djemma el Fna … beflügelt“, wie Braun annimmt – erst 1971, in Detlevs Imitationen „Grünspan“:  „Ich kann mir die Freiheit, wenn ich ehrlich bin, nur als eine gigantische, weltweite Verschwulung vorstellen…“ Weiterlesen

Geschwisterliebe

(Autor_innen: Claudius Laumanns und Heinz-Jürgen Voß; gedruckt in „Rosige Zeiten“, Oldenburg, Nr. 117)

 

Patrick S. und Susanne K. lieben sich. Sie haben 4 Kinder zusammen und wünschen sich eine gemeinsame Zukunft. Das Problem: es sind Bruder und Schwester. Obwohl sie getrennt aufgewachsen und allen Anschein nach gut für einander sind, hat sie ihr Umfeld in der Provinz eilfertig denunziert. Patrick S. sitzt wegen Inzucht (§173 StGB) im Gefängnis. Erst nach breiten Reaktionen in der Öffentlichkeit fanden sie den Mut zu ihrer Liebe zu stehen. Jüngst beschäftigte ihr Fall sogar das Bundesverfassungsgericht. Dieses bekräftigte das Verbot von Geschlechtsverkehr unter leiblichen Verwandten ausdrücklich im Namen der Familienordnung.

Die Meisten von uns würden nicht einmal auf die Idee kommen, sich in die eigenen Geschwister, die Eltern oder Großeltern zu verlieben oder sich Sex mit ihnen zu wünschen. Schließlich kennt man sich schon sehr lange und freut sich vielleicht eher Abstand gewonnen zu haben und sich ein eigenes Leben aufgebaut zu haben. Doch eine solche „Mehrheit“ findet sich in allen Aspekten menschlicher Liebe und Sexualität. Eine Mehrheit wäre ohne Minderheit nicht was sie ist oder anders: Jede Norm birgt das Potential der Abweichung in sich. Weiterlesen

Per Olov Enquist: Gestürzter Engel

„An den Abenden konnte man sie in ihrem Bett sitzen sehen, der Deckel der Hutschachtel war abgenommen, aber sein Kopf immernoch in der Schachtel, sie unterhielt sich leise und aufrichtig mit ihm, doch manchmal erregte sie sich und überhäufte ihn mit Vorwürfen und Beschimpfungen; es gab Gelegenheiten, da fand sie sein Verhalten unentschuldbar und schlug den Deckel der Hutschachtel zu und stopfte die Schachtel ganz oben in den Kleiderschrank und drohte heftig fluchend damit, ihn nie mehr hervorzuholen.“

„Acht mal hatte er versucht, Selbstmord zu begehen, bevor es ihm glückte. Er hielt ihnen seine Selbstmordversuche gewissermaßen entgegen, nicht um gerettet zu werden, wie es üblich ist, sondern als ein Angebot. Alle Versuche sehr ungeschickt, fast komisch. Beim ersten Mal hatte er seine Armbanduhr genommen, das Armband benutzt, genauer gesagt den kleinen Stahlbolzen, den man in die Löcher steckt, und damit versucht, ein Loch in eine Ader zu stechen. Er hatte gegraben und gegraben und mit dem stupfen kleinen Bolzen ein Loch zustandegebracht, durch das nur wenig blut fließen konnte; ein lächerlicher Versuch.“ Weiterlesen