Queer zwischen kritischer Theorie und Praxisrelevanz

Der nachfolgende Vortrag ist veröffentlicht in: H.-J. Voss (2004): Queer zwischen kritischer Theorie und Praxisrelevanz; in: H. Hertzfeldt, K. Schäfgen, S. Veth (Hrsg.): Geschlechter Verhältnisse – Analysen aus Wissenschaft, Politik und Praxis. Dietz Verlag, Berlin.
„Sehr geehrte Damen und Herren“ ist ein Anfang, wie er bei nahezu jeder Rede und beinahe jedem Anschreiben gebraucht wird. Schon in dieser Begrüßungsformel wird deutlich, wie binär unser Alltagsleben aufgebaut ist, wie wenig Platz Menschen darin finden, die nicht dem gesellschaftskonformen Schema entsprechen. Nur zu oft greifen auch Menschen darauf zurück, die es eigentlich besser wissen müssten, Menschen, die schon seit langem in gender oder queeren Zusammenhängen aktiv sind. Ich möchte Dich mit diesem Text zu einem queeren Diskurs einladen, zu einer radikalen Kritik der normativen Zweigeschlechtlichkeit, wie sie die queer-Theorie offen darlegt (1. Abschnitt), und darüber hinaus zu einer kritischen Betrachtung theoretischer queer-Konzepte in Bezug auf ihre Praxisrelevanz (2. Abschnitt). Schließen möchte ich mit einer Vision einer verqueeren Gesellschaft. (1)

Queer?

Ein historischer Abriss
Aus dem Englischsprachigen kommend, stand und steht queer als Schimpfwort für Homosexuelle. Übersetzt bedeutet es soviel wie „seltsam“ oder „merkwürdig“, im Sprachgebrauch erhält es eher eine mit „Schlampe“ oder „Arschficker“ vergleichbare Bedeutung. Historisch entstammt queer der schwulen Subkultur und wurde in den USA bereits 1930 als eine Vorform von „gay“ genutzt. (2) Zunächst schon als überkommener Begriff angenommen, wurde queer durch Queer Nations in den 1980er Jahren selbstbewusst aufgegriffen und erfuhr eine Umdeutung, hin zu einem übergreifenden Ausdruck, der alle Menschen unabhängig von ihrer Identität und Lebensweise einschließen soll. Damit stellte queer zumindest in der wissenschaftlichen Fachsprache explizit einen Gegensatz zu gay oder lesbian dar. Queer Nations entwickelte sich als loser Zusammenschluss verschiedener Gruppen und baute auf die vorangegangene Act up-Bewegung auf, die sich zunächst aus HIV-infizierten und aidskranken Schwulen zusammensetzte und mit provokanten öffentlichen Aktionen auf die Situation aus der Gesellschaft Ausgegrenzter aufmerksam machte. Rasch entstand eine Sammelbewegung, die auch Kritik an der lesbischen und schwulen Community übte, die den weißen mittelständischen Mainstream angriff (und angreift) und Lesben und Schwule anderer Ethnien, Tunten, Trans*en, SMlerinnen, Prostituierte, Menschen der „Unterschicht“ in den Blickpunkt der (lesBiSchwulen) Öffentlichkeit rückte. Queer entwickelte sich zu einer Bewegung, in der sich alle diejenigen zusammenfanden, die von der Gesellschaft zu Außenseiterinnen gemacht wurden. (3) Allein die Begrifflichkeit verlieh queer dabei schon einen kämpferischen Charakter, der in öffentlichen Aktionen untermauert wurde. Mit dem Kampf auf der Straße begannen sich in den 90er Jahren Theorien zu entwickeln, die Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse aufzeigen wollten und begannen, die HERRschende binäre Ordnung zu hinterfragen. Patriarchat, Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit wurden in Tradition zu radikaler feministischer Theorie als Unterdrückungsverhältnisse ausgemacht, hinterfragt und Lösungsvorschläge aufgezeigt.

Konzept Uneindeutigkeit
Kein Geschlecht oder viele. So ein Leitsatz der queer Theorien. Zweigeschlechtlichkeit wird als gesellschaftliches Konstrukt offenbart, dass zudem erst im 19. Jahrhundert in dieser Form entstanden ist. Zuvor gab es eine Unterscheidung „vollkommener“ und „unvollkommener“ Körper, mit der jedoch nicht der Aspekt der Unterordnung verknüpft war. Ebenso bildete sich auch erst Mitte des 19. Jahrhunderts eine Definition von Homosexualität heraus. In frühen Diskussionen der 1970/80er Jahre suchten feministische Theorien, sex als biologisch festgelegtes Geschlecht und gender als Geschlechtsidentität voneinander zu trennen. Damit wollten sie aufzuzeigen, dass Geschlechtsidentität unabhängig von einer biologischen Bestimmtheit existiert, dass sex also nicht genutzt werden darf, um Rollenverhalten und Benachteiligungen abzuleiten. Diese Strategie ist problematisch, zementiert sie doch die Zweigeschlechterordnung als biologisch begründet und räumt Menschen, die einem dieser Geschlechter nicht entsprechen oder entsprechen wollen, keine Existenzberechtigung ein. Judith Butler argumentiert gegen diese Aufsplittung und zeigt auch sex als gesellschaftlich konstruiert auf. (4)

Schon in der Erziehung wird jungen Menschen vermittelt, wie „Mann“ und „Frau“ aussehen, welche biologischen Merkmale sie haben und welche gesellschaftlichen Rollen sich daraus herleiten. Medien, Einkaufsverhalten, umgebende Gesellschaft tun ein Übriges, um Uneindeutigkeiten zu reglementieren bzw. auszuschließen. Es schickt sich nicht, wenn „Jungen“ mit Puppen oder „Mädchen“ mit Autos spielen. Beim Einkauf muss Wäsche scharf getrennt sein, als „Mann“ oder als „Frau“ könnte man sonst Kleidungsstücke kaufen, die nicht dem „Geschlecht“ entsprechend sind. Werbung verkauft Produkte für „Männer“ oder „Frauen“. Nicht zuletzt zeigt auch die Toilettennutzung klar, was man ist, bzw. viel deutlicher, was nicht. Paradoxerweise gilt das Toilettenbeispiel nicht bei behinderten Menschen. Diese passen auf Grund ihrer Behinderung nicht in das genormte Bild, so dass ihnen selbst von einer konsequent binären Gesellschaft „Geschlecht“ und Sexualität abgesprochen wird. Diese erlernte Wahrnehmung wirkt zeit Lebens fort und erschwert einen unvoreingenommenen Umgang mit anderen Menschen. Man lernt, so lange man sich innerhalb einer weißen, gutsituierten Zweigeschlechtlichkeit bewegt, kann man gleichberechtigt an allen Formen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben. Je nach Intensität der Abweichung nimmt auch der Grad der Akzeptanz und gesellschaftlichen Teilhabe ab.

Normen der Gesellschaft spiegeln sich auch im Umgang mit der sexuellen Orientierung wieder. Alles was nicht-weiß und nicht-heterosexuell ist, hat keinen Platz oder muss sich diesen erst erstreiten, immer der Gefahr ausgesetzt, schon bei kleinen Änderungen der politischen Lage wieder – oder verstärkt – Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. Mit Sondergesetzen soll eine rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen erreicht werden. Neben dem unübersehbaren Schluss, dass Sondergesetze immer auf Diskriminierungen fußen (sonst könnten ja die gleichen Rechte zugestanden werden), muss auch beleuchtet werden, dass unsere gesamte Gesellschaft auf Heterosexualität orientiert. Es fängt an bei der Ehe und dem Ehegattensplitting und endet nicht bei der Bildungspolitik, Medien- und Werbebranche, die durch eine Fixiertheit auf heterosexuelles Publikum (5) einen verstärkten Druck auf Menschen, die nicht so l(i)eben, ausüben. Dabei bildet, das sei hier auch kurz angeschnitten, die Linke keinerlei positive Ausnahme, wie die Erfahrungen mit der Exillinken während des Nationalsozialismus und im realexistierenden Sozialismus zeigen. Auch in anarchistischen Ideen wird freie Liebe als freie Liebe des Mannes verstanden. (Hetero)sexismus ist auch hier ein entscheidendes Machtelement. (6)

Queer Theorien wollen Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse aufbrechen und jedem Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dabei muss einerseits auf feministische Theorien zurückgegriffen werden, um patriarchale Macht- und Herrschaftsverhältnisse deutlich zu machen und aufzulösen. Andererseits ist queer gefordert, über radikalen Feminismus hinauszugehen, um Auswirkungen von Zweigeschlechtlichkeit, das Herausbilden kollektiver Identitäten, die Einteilung in Mehrheiten und Minderheiten und die Stilisierung „des Anderen“ anzugreifen. Bei allen Bestrebungen von queer muss hinterfragt werden, ob es nicht selbst neue Kategorien und Grenzen aufbaut oder zu einer Art allwissenden Institution wird, wozu kleine elitäre Grüppchen leicht neigen, wenn sie im eigenen Saft schmoren. (7)

Die Straße
Fangen wir einfach noch einmal neu an. Queer: „[engl.] eigenartig, komisch, seltsam, kauzig, verdächtig; umg. unwohl; umg. schwul“ (8) Wir wehren uns zu Recht vehement gegen eine Definition des Begriffes queer, der eine Einschränkung auf „schwul“ erfährt. In Wörterbüchern ist queer aber genau so belegt. Viele Menschen haben den Begriff dagegen noch nie gehört und halten das zweite „e“ für einen Rechtschreibfehler. Die neue Funsprache definiert gar queer-Partys, z.T. mit dem Nachsatz „boys only“. Queer stellt hier eine Umschreibung für schwule House-, Techno- oder auch Alternativmusik dar. Queer-Theoretikerinnen versuchen nichts desto trotz ihre Definition des Begriffes queer, für alle (nicht nur) von der Norm abweichende Lebensweisen, aufrecht zu erhalten.

Dies ist nur ein Beispiel, offenbart aber sehr deutlich die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und der Vermittelbarkeit der Inhalte. Der Begriff Queer bewegt sich heute im Spannungsfeld zwischen schlichter Unkenntnis, Modewort und ernsthafter Theorie. Auf der Straße ist man der Herausforderung ausgesetzt, Menschen erst einmal erklären zu müssen, dass es auch Lesben und Schwule gibt und die auch gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben möchten. Von Lebensweisenkonzepten oder gar von der Dekonstruktion von Geschlecht reden zu wollen, schafft im besten Falle Verwirrung und Desinteresse. Ähnliches gilt selbst für die lesbisch-schwule Community. Dort muss man beinahe froh sein, wenn Lesben und Schwule noch bemerken, dass sie immer noch in wesentlichen Punkten benachteiligt werden. Nach der Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft hat die Sensibilität hierfür stark abgenommen. In Berlin, Leipzig oder Köln sind Diskriminierungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten zurückgegangen und ist auch die Sensibilität der Bevölkerung und der lesBiSchwulen Community weitaus größer als in kleineren Städten und Gemeinden. Aber auch in diesen Großstädten ist die, sich selbst als queer bezeichnende, Szene rassistisch und intolerant. Um Chancen auf mehr als einen one-night-stand zu haben, muss man – wie gehabt – weiß und möglichst gut situiert sein (oder Abhängigkeiten bewusst in Kauf nehmen) und körperlich dem Ideal entsprechen. Migrantinnen, Tunten, Trans*en, Menschen mit BBB (Brille Bart Bauch) haben keine Chancen. „Lesben“ stehen „Schwulen“ dabei in nichts nach. Auch hier existiert Intoleranz gegenüber Migrantinnen, begegnen sich Butches und Femmes mit Argwohn oder werden Trans*en ausgegrenzt.

Queer ist langweilig geworden. In dem Flugblattmanifest „Queers Read This! I Hate Straights“ heißt es: „An Army of Lovers Cannot Lose […] Being queer means leading a different sort of life. It’s not about the mainstream, profit margins, patriotism, patriarchy or being assimilated. It’s not about executive directors, privilege and elitism. It’s about being on the margins, defining ourselves; it’s about gender-fuck and secrets, what’s beneath the belt and deep inside the heart; it’s about the night. Being queer is „grass roots“ because we know that everyone of us, every body, every cunt, every heart and ass and dick, is a world of pleasure waiting to be explored. Every one of us is a world of infinite possibility.” (9) Von einer radikalen Bewegung hat sich queer weit entfernt. Queer ist auf Konferenzen verbannt worden, wo die Theorie weiter ausgefeilt wird, während konservative Bewegungen dabei sind, queer von den Seiten her wegzufressen und mit einem Sinn zu erfüllen, der nicht mehr zu einer radikalen Opposition fähig und willens ist. (10) Damit kann nicht allein die Begrifflichkeit gemeint sein, die vornehmlich durch eine weiße, gut gebaute, gesunde, schwule Community umgedeutet wird. Kleine elitäre Konferenzen tragen ebenfalls dazu bei, dass der Begriff mehr und mehr Offenheit verliert und sich damit zu einer Art selbsterhaltender Institution entwickelt. Queersein ist mehr als problematisch, schafft es doch wieder eine Gemeinschaft mit Grenzen zu jenen, die nicht dazu gehören. Schon in ihrem Buch „Körper von Gewicht“ plädiert Judith Butler dafür, die Offenheit des Queer-Begriffes zu erhalten. (11) Queer eingrenzen heißt, es der Offenheit und Differenz zu berauben, die es zum Atmen braucht. Um Bewegung zu werden und damit auch im Sinne von queer zu agieren, ist es unumgänglich, Unterstützerinnen außerhalb bestehender Diskussionskulturen zu suchen, mit ihnen Gespräch und sehr wohl auch Streit zu beginnen und damit eigene intellektuelle und praktische Begrenztheit immer wieder zu problematisieren.

Queere Praktiken und Politiken

Queer vorleben
Queer ist nichts, was man sein kann, man kann nur selber sein und Diskriminierungen und Herrschaften radikal thematisieren. Praxisnah und erfahrbar wird bisherige queer-Theorie, indem Menschen Offenheit in Denk- und Lebensweise leben und bisherige gesellschaftliche Kompromisse und gesetzliche Regelungen auf Offenheit überprüfen und hinterfragen. Macht und Herrschaftsstrukturen, Hierarchien in allen Ebenen stehen einer solchen Offenheit im Wege. Von Geburt an werden diese Herrschaftsverhältnisse in „neuen Menschen“ reproduziert. Insofern müssen Herrschaften konsequent angegriffen werden. Gleichzeitig muss man eigene Ansätze und Herangehensweisen hinterfragen und Verkrustungen auflösen, sich also nicht als „Nabel der Welt“ begreifen und streitbar bleiben.

Bewusst muss sein, dass es für Menschen schwierig ist, Dekonstruktion von Geschlecht nachzuvollziehen, wenn man sich selbst als Lesbe oder Schwuler versteht. Einmal überdenken sollte man den Umgang mit Menschen verschiedener Identitäten und Lebensweisen, wie man bspw. auf verschiedene Menschen zugeht und wie man eigene Sexualpartnerinnen auswählt. Bei beidem erliegen viele einem Drang zu Benachteiligung und Diskriminierung, allein auf Grund unterstellter Körperlichkeiten oder Verhaltensweisen. Praxisrelevant ist dies allemal und dürfte auch in vielen Diskussionen angesprochen werden. Neben Ansätzen zur Änderung des eigenen Verhaltens und Verständnisses ist es hier aber auch möglich, den Unterschied zwischen vertretener Theorie und eigenem Lebenskonzept deutlich zu machen, die durchaus – nicht nur durch herrschende gesellschaftliche Konventionen – voneinander abweichen können. Lässt man diese Problematik bei Erklärungen großzügig aus, läuft man Gefahr, unglaubwürdig zu werden oder queer als nicht umsetzbare Theorie zu vermitteln. Durch ein Herausarbeiten wesentlicher Bestandteile des queer-Konzeptes, wie der Herrschaftskritik, der Kritik an Zweigeschlechterordnung und der Heteronormativität und der kritischen Reflektion der eigenen Lebenswirklichkeit wird es auch für Menschen, die sich bislang nicht mit queer beschäftigt haben, möglich, queere Ansätze und ihre Praxisrelevanz nachzuvollziehen. Aus meiner politischen Erfahrung ist dabei darauf zu achten, dass man in eigenen Diskussionsfäden nicht beginnt, queer als Sammelsurium verschiedener Sexualitäten oder als Problemkreis Ausgegrenzter darzustellen, sondern als Diskussionsangebot, dass jede betrifft. So fällt es auch leichter, Bündnispartnerinnen für die weitere Arbeit zu gewinnen, da diese in allen gesellschaftlichen Bereichen zu finden sind.

Auffallen, erklären und diskutieren, ist eine Herangehensweise. Werkzeuge kann man sich dabei auf allen Ebenen suchen. Ob nun die verwendete weibliche Bezeichnung in einer patriarchal geprägten Sprachkultur oder eine nicht-gesellschaftskonforme Toilettennutzung, letztlich sorgen sie für Aufmerksamkeit, Interesse und Unverständnis. In anschließenden Diskussionen kann die Gesellschaft als patriarchal, zweigeschlechtlich und heteronormativ enttarnt und die Auswirkungen auf Menschen, die sich nicht einpassen wollen oder können, deutlich gemacht werden.

ALLES verqueeren
Ein grundsätzlicher Ansatz kann sein, alles auf Queerness zu hinterfragen, sprich alles zu verqueeren. Ein kleines aber nachvollziehbares Beispiel sind Schulprojekte. Neben positiven Effekten zur Förderung von Toleranz und Akzeptanz gegenüber Lesben und Schwulen, stützen sie in der praktischen Arbeit die herrschende Geschlechterordnung und -hierarchie. Lesben und Schwulen werden (vielleicht) Plätze in der Sonne der „Mehrheit“ eingeräumt, Ausgrenzungen gegenüber anderen Menschen jedoch nicht thematisiert. Es wird das Denken in „Minderheiten“ und „Mehrheiten“ zementiert, dass ein „normal“ zur Grundlage hat. Natürlich sind solche Unterrichtsstunden sinnvoll und wichtig, gleichzeitig muss darüber nachgedacht werden, wie negative Wirkungen ausbleiben oder minimiert werden können. Grundlegender Ausweg ist eine umfassende Reform der Sexualpädagogik, in der Wirkungen von Sexualität, Geschlecht, Normativität und Identität diskutiert werden. Aber auch Schulprojekte können ihre Arbeitsweise und die Auswahl von Spielen insofern verändern, dass die Einteilung in Jungen und Mädchen und die Zuweisung spezifischer Rollen hinterfragt werden. Mehr ist in wenigen Stunden sicherlich nicht umsetzbar. Jeder Mensch kann im eigenen Umfeld beginnen, Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren, sei es in Beziehungsverhältnissen, in Arbeitsverhältnissen oder bei der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Wichtig erscheint mir die Erkenntnis, dass jeder Mensch diskriminiert wird und selbst diskriminiert. Betroffen von Diskriminierungen sind Menschen anderer sozialer und/oder kultureller Herkunft, anderer Religion, anderen „Geschlechts“, anderer Identität, Menschen mit Behinderung. Dabei steht immer das „anders als ich“ im Mittelpunkt bewusster oder unbewusster, psychischer oder physischer Benachteiligung und/oder Gewalt. Eigene Diskriminierungen offenzulegen und abzustellen und Bereiche, in denen man selber diskriminiert wird, offen zu benennen, ermöglichen eine queere Leb- und Erfahrbarkeit. Erfahrungen aus dem eigenen sozialen Umfeld können dann in einer Kritik gesellschaftlicher Zusammenhänge münden. Auswirkungen von Legislative, Exekutive und Judikative können untersucht, Arbeitskritiken erarbeitet oder das Militär als Gewalt in der Gesellschaft erhaltend und befördernd, dargestellt werden. Da wo Herrschaft, „Geschlecht“ und Identität Schnittpunkte bilden, liegen Angriffspunkte für queere Theorien. Vorreiterinnen und Bündnispartnerinnen können radikale feministische Bewegungen sein, was auch die Möglichkeit bietet, der Marginalisierung von Feminismus in der Queer-Theorie entgegenzuwirken und damit von einem schwulen Image wegzukommen. (12) Nicht zuletzt kann durch eine starke Öffentlichkeit für einen umfassenden, offenen, herrschafts- und geschlechtskritischen queer-Begriff einer Tradierung des Begriffes durch konservative Kräfte entgegengewirkt werden.

Queere Politiken
Alles verqueeren, muss es auch in einem „Rechtsstaat“ heißen, um zumindest Diskriminierungen und Hierarchien zu minimieren. Gender mainstreaming und Management diversity benennen Möglichkeiten, wie Benachteiligungen aufgezeigt und abgebaut werden können. Leider vergessen sie dabei häufig eine Herrschafts- und Normenkritik, so dass sie Gefahr laufen, zu einem Handlanger einer Ordnung zu werden, die Menschen als individualisiertes Humankapital begreift oder traditionelle Familienbilder befördert. Auch Unternehmen erkennen zunehmend, dass Mitarbeiterinnen, die nicht diskriminiert werden oder sonstigem psychischen Stress ausgesetzt sind, leistungsfähiger sind. Sie präferieren individualisierte, flexible Mitarbeiterinnen, die keine sozialen Verpflichtungen haben und bei denen insofern bspw. das Geschlecht (hier ist das binäre gemeint) keinerlei Rolle mehr spielt. Alternativ ist ein traditionelles Familienbild (durchaus unter Einbeziehung von Lesben und Schwulen) möglich, bei denen soziale Verantwortung in regulierbare Bahnen gelenkt wird. Queere Theorie steht einer solchen Entwicklung durch radikale Forderungen entgegen, solange sie Grundlagen der patriarchalen Gesellschaftsformen in Frage stellt.

In der Familienpolitik hat die PDS-Bundestagsfraktion 2002 Grundzüge vorgelegt, die die traditionelle Familienpolitik in Frage stellt. Nicht mehr Mann, Frau, Kinder oder Frau, Frau, Kinder, sondern die freie Wählbarkeit der Familie bestimmen das Konzept. „Familie ist da wo Nähe ist“ lautet somit auch der Leitspruch der AG queer der PDS. Jeder Mensch soll selber bestimmen, wer zur eigenen Familie gehört und dies unproblematisch dem Staat zur Kenntnis geben können, wenn sie denn will. Blutsverwandtschaft, Bevorzugungen von Ehe und Eingetragener Lebenspartnerschaft (und ihrer Abhängigkeiten) haben ausgedient. Alle Lebensweisen sollen gleichberechtigt sein, Vergünstigungen an soziale Verantwortungen gegenüber anderen Menschen (seien es bspw. Kinder oder Pflegebedürftige) gebunden werden. Abhängigkeitsverhältnisse sollen abgebaut und vermieden werden. (13) Die Politik ist aufgefordert, sich der Lebenswirklichkeit anzupassen und Hemmnisse zu entfernen, Menschen leben hier (14) ohnehin wie sie wollen. Was in der Familienpolitik anfängt, muss in anderen Bereichen fortgesetzt werden. Alle rechtlichen Vorschriften sind darauf zu untersuchen, ob sie Benachteiligungen oder Diskriminierungen direkt oder indirekt voraussetzen oder fördern. In diesem Sinne ist die Rechtswirklichkeit in vielen Bereichen an bestehende Lebensrealitäten anzupassen. Identitäten dürfen nicht mehr behindert werden, auch eine freie Wahl von körperlichen Merkmalen muss selbstbestimmt möglich und durch Krankenkassen voll gedeckt werden. Die Geschlechtsbezeichnung in Ausweisen ist zu entfernen, die Abfrage des Geschlechts und des Familienstandes in amtlichen und nichtamtlichen Fragebögen zu streichen, Prostitution als Gewerbe anzuerkennen, unterschiedliche Möglichkeiten beim Zugang zu Bildung anzugleichen, alle öffentlichen und nichtöffentlichen Bauten mit behindertengerechten Zugängen zu versehen, eine soziale Grundsicherung einzuführen, die auch den Zugang zu Kultur ermöglicht, die Trennung von christlicher Kirche und Staat vollständig zu vollziehen, „Migrantinnen“ und „Hiergeborene“ rechtlich nicht mehr zu unterscheiden…, um nur einige Ansatzpunkte zu nennen.

Letztlich bleiben benannte Ansätze reale Politiken, die versuchen, Hierarchieebenen eines Staates abzubauen. Der Staat an sich, Polizei, Grenzschutz und Militär, Kapitalismus, real existierender Sozialismus, Patriarchat… stellen Hierarchieformen dar, die selbsterhaltend wirken. Sie stehen einer freien Entfaltung des Individuums im Wege und werden durch die beschriebenen rechtlichen Änderungen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Eine radikale queere Gesellschaftskritik bleibt folglich unerlässlich. An Stelle staatstragender Systeme könnte ein gesellschaftlicher Konsens treten, der sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und immer veränderlich bleibt. Benachteiligungen werden auch dabei entstehen, durch eine ständige Selbst(reflektion) können sie aber immer wieder aufgebrochen werden. (15)

Ein etwas anderer Ausblick

Es war einmal vor langer langer Zeit in einer fernen Welt, begann Sedu zu erzählen, Menschen wurden geboren, wie wir heute auch. Gleich nach der Geburt kümmerte sich die Gebärende um die kleinen Frischlinge, spätestens eine Woche darauf musste das Kind einen Namen haben, der zu einem von zwei Geschlechtern passte. Der „Mann“, so wurde der penetrierende Anteil bei der Befruchtung bezeichnet, ging währenddessen „arbeiten“ oder er hatte sich für ein paar Tage „Freizeit“ genommen. Als „Arbeit“ wurde ein Vorgang zum Broterwerb bezeichnet, die Zeit zwischen der Arbeit hieß „Freizeit“ und wurde in der Regel als viel schöner und spaßiger wahrgenommen. Zwischen dem Gebären war die „Frau“ (das war die Penetrierte) häufig zu Hause und kümmerte sich um Sauberkeit, das Essen, spielte mit den Kindern und hatte Sex mit dem arbeitenden Mann und nur mit diesem. Für mehr waren Frauen nicht da, das heißt in der Spätphase durften auch sie arbeiten gehen, hatten aber nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten, Verantwortungen zu übernehmen, wie Männer. Das die Frauen nur mit dem arbeitenden Mann Sex haben durften und nicht mit anderen Menschen wurde fest besiegelt, in christlichen Kirchen als „Ehe“. Der „Staat“, ein durch Gewalt aufrecht erhaltenes System, beförderte diese Institution Ehe und verband damit Vergünstigungen, die die „Arbeitsteilung“ (also dass der Mann arbeiten ging und die Frau zu Hause blieb) beförderte. Einige Männer hatten Frauen auch ganz überflüssig gemacht und gingen miteinander Ehen ein, um miteinander Sex haben zu dürfen; der Penetrierte übernahm dann die Rolle der Frau. Ob das Kind nun ein Mann oder eine Frau war, spielte somit natürlich eine entscheidende Rolle. Dafür wurden auch Auswahlmechanismen noch vor der Geburt eingeführt, um möglichst Männer als Kinder zu kriegen… Das „eigene“ Bett für das Kind war schon vor der Geburt „gekauft“ wurden. Es wurde sogar ein ganzes Kinderzimmer eingerichtet. Die Menschen damals waren noch im Besitzstandsdenken gefangen. Man nahm nicht was man brauchte und gab was man konnte, sondern ging arbeiten, um im Austausch „Geld“ zu erhalten, dass man dann gegen das, was man brauchte, eintauschen konnte. Wer nichts eigenes hatte, war arm dran und wurde von der Gesellschaft verstoßen. Menschen egoisierten (16) gern, „meine“, „deine“, „das Eigene“ spielten eine große Rolle. Das Egoisieren wurde an die Kinder rasch weitergegeben. Je älter das Kind wurde, desto mehr wurde es auch an die jeweilige Lebensrolle der Frau oder des Mannes herangeführt. Geschlechtertrennung gab es allerorten, Benachteiligungen auch. Menschen die nicht Spiegelbilder von dir selbst waren, durftest du verhauen bzw. der Staat sagte, wann du sie verhauen durftest oder tat es selber. Wer nicht viele Dinge als „eigen“ bezeichnen konnte, hatte nur wenige Möglichkeiten auf Bildung und Teilhabe an lebensnotwenigen Prozessen der Gesellschaft, sondern musste mehr arbeiten gehen. So gingen einige acht, andere zehn oder zwölf Jahre zur Schule, wo ihnen Wissen zum Arbeiten beigebracht wurde. Nebenbei lernten sich Männer und Frauen kennen, hatten Sex miteinander. Wenn die Männer und Frauen dann alt genug waren, heirateten sie und gingen acht, zehn oder mehr Stunden am Tag arbeiten.

Sedu, und wie lange ging solch ein Leben?

 

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Erschienene Bücher von Heinz-Jürgen Voß:
(Mit-Hrsg.) Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik (2008, Dietz, 328 Seiten, 19,90 EUR)
Geschlecht: Wider die Natürlichkeit
(2011, Schmetterling, 180 Seiten, 10 EUR)
Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive (2010, Transcript, 466 Seiten, 34,80 EUR)

 

Fußnoten
(1) Sprachlich werde ich ausschließlich die weibliche Bezeichnung verwenden, mit der Intention, Menschen aller Identitäten einzuschließen und an Dir nicht vorbeizureden.
(2) Jagose, Annamarie (2001): Queer Theory – Eine Einführung”, Berlin, S.95ff
(3) Kraß, Andreas (2003): Queer Denken, Frankfurt/Main, S.17-19
(4) Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main, S.22ff, S.25ff
(5) Auch die Einteilung in “homo-“ und “heterosexuell” ist problematisch, führt sie doch auch zu einer Einordnung in ein zweigeschlechtliches System. An dieser Stelle soll sie nur verwandt werden, um die Diskrepanz aufzuzeigen, in der sich Menschen verschiedener Identitäten befinden.
(6) Speck, Andreas: Nebenwiderspruch Homosexualität?, http://people.freenet.de/ask/a_gay.html (Stand: 28.10.2002)
(7) Laschitza, Annelies (1990): Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, Extraausgabe des unvollendeten Manuskripts “Zur russischen Revolution” […], Berlin, S.157-158
(8) Wörterbuch Englisch-Deutsch, VEB Verlag Enzyklopädie Leipzig, 1989; in gleichem Kontext: Langenscheidt Wörterbuch Englisch, Langenscheidt KG, Berlin und München, 1999 und via mundo – Basiswörterbuch Englisch, Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München, 2001
(9) „Queer Read This, I Hate Straights”, veröffentlicht in dem Manifest der Gruppe “Queer Nation”, 1990, in leicht veränderter Fassung u.a. im Internet: http://www.jessanderson.org/doc/qnation.html (Stand: 01.08.2003)
(10) Currid, Brian (2001): Nach queer? In: Heidel, Ulf / Micheler, Stefan / Tuider, Elisabeth (Hrsg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen, Hamburg
(11) Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt/Main
(12) Currid, Brian (2001): Nach queer? In: Heidel, Ulf / Micheler, Stefan / Tuider, Elisabeth (Hrsg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen, Hamburg
(13) PDS-Bundestagsfraktion (2002): Familienpolitik der PDS-Bundestagsfraktion – Grundlinien und Perspektiven, Diskussionsstand vom März 2002, Berlin
(14) In anderen Gesellschaften herrschen weit restriktivere gesetzliche Regelungen vor, die andere Lebensweisen z.T. mit der Todesstrafe verfolgen. / Eine räumliche Grenzziehung zwischen „Nationen“ ist in vielerlei Hinsicht problematisch.
(15) Empfohlen sei hierzu Ursula K. Le Guin (1976): Planet der Habenichtse, München (Erstveröffentlichung 1974 unter dem Titel „The Dispossessed“ in den USA), in dem die Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft dargestellt wird, die sich aus ihrer Selbst heraus neue Grenzen aufbaut. Ein gesellschaftlicher Konsens steht schließlich einer freien Entfaltung der Einzelnen entgegen, der durch Aktion wieder aufgebrochen werden kann.
(16) Ebd. – zum Begriff des „Egoisieren“

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